Dem Delirium entrinnen

■ Claude Chabrol über Romantiker, Paranoiker und Jack the Ripper

taz: Haben Sie mit Eheglück nichts am Hut?

Claude Chabrol: Harmonie und Freude wie am Anfang von „Die Hölle“ ist dämlich.

Paul, der eifersüchtige Ehemann, leidet unter Bildern und Einbildungen, bis auch der Film selbst zum paranoiden Trip wird.

Die Bilder der Eifersucht haben eine ungeheure Macht. Der arme Typ, der mit seinem Hotel und der zu schönen Frau überfordert ist, beginnt, in seinem Kopf die Bilder, die er kennt, mit denen zu ergänzen, die er gesehen haben will.

Ich zwinge den Zuschauer immer mehr, Pauls Entwicklung von der Paranoia – die wir alle kennen – bis zur Schizophrenie zu folgen und dabei den Boden unter den Füßen zu verlieren, in sein Gehirn einzudringen. Bei Hitchcock können die Figuren ihrem eigenen Delirium oft noch entkommen, aber bei mir gibt es diesmal keinen Ausweg. Pauls Hirn explodiert förmlich, und dem Zuschauer müßte es ähnlich ergehen. Natürlich kann mein Film kein Ende haben, sonst wäre es nicht „Die Hölle“.

Pauls Ohnmacht zeigen Sie à la Buñuel: Er beobachtet seine Frau durch ein Gitter: Ist das Zoologie oder Metaphysik?

Genau wie bei Buñuel markiert das Gitter seine völlige Blockade. „Die Hölle“ ähnelt Buñuels „El“, wo allerdings zusätzlich die Leidenschaften mit der bürgerlich- katholischen Gesellschaft zusammenstoßen. Bei mir hat die Eifersucht nichts mit religiösen Vorstellungen von Sünde zu tun.

Sie mögen Ehe-Krimis, aber ohne Schuldfrage.

Vielleicht könnte man „Die Hölle“ sogar als Fantasy-Film bezeichnen, weil er in einem Moment völlig von der Realität abhebt. Der Ehemann wird sein eigener Privatdetektiv, der hinter das Geheimnis seiner Frau kommen will; zu seinem Pech sind weibliche Geheimnisse höchst kompliziert. Ich weiß nicht, ob Nelly lügt und ob sie ihren Mann betrügt. Sie ist eher naiv und sonnt sich in der allgemeinen Bewunderung; auch wenn sie ein- oder zweimal ihren Verehrern nachgegeben haben sollte, sind das eher Kapriolen als Seitensprünge. Nelly ist „unschuldig“ – wie alle meine Figuren –, aber in einem bestimmten Moment fängt eine gewisse körperliche Fatalität an, ihre eigene Rolle zu spielen. Diese Ambivalenz hat mich gereizt.

Fatal, fatal! An Ihnen pappt das Etikett „Maler der Bourgeoisie“. Funktioniert das überhaupt noch?

Cézanne hat man auch als Äpfel-Maler abgestempelt. Also ist es halb so schlimm. (lacht) An der Bourgeoisie reizt mich ihre ständige Widersprüchlichkeit. In der viktorianischen Epoche gab es in England die Bourgeoisie par excellence – und in ihrem Kern: Jack the Ripper. Eine solche Gesellschaft des vielfältigen äußeren Scheins ist sich der Realität der Menschen nicht bewußt und kann daher jederzeit zerbrechen. Im Magen sammeln sich kleine Klöße an, und plötzlich kommt ein Jack the Ripper, der den Bauch aufschlitzt und – ourrgh (rollt mit den Augen) – alles aufplatzen läßt! Mich interessiert an der Bourgeoisie, daß sie um jeden Preis glücklich sein will. In der Ära Pompidou [1969–1974, wo Chabrols „klassische“ Filme wie „Die untreue Frau“, „Der Schlachter“, „Blutige Hochzeit“ und so weiter entstanden] waren alle ziemlich wohlhabend und konsumierten wie verrückt – aber glücklich waren sie überhaupt nicht. (lacht) Es ist wichtig, Qualitäten und Schwächen der sozialen Klassen gut zu kennen. Aber Klassenkämpfe, nun ja! Da bin ich eher skeptisch.

Fassbinder bezeichnete Sie als „bürgerlichen Zyniker“.

Wenn er Zynismus im Sinne von Diogenes meint – als philosophische Doktrin, die die Rationalität und die Werte jeder denkbaren Gesellschaft in Frage stellt –, dann bin ich tatsächlich zynisch. Aber heute ist jemand zynisch, der jede gesellschaftliche Weiterentwicklung durch moralisch-zivilisatorische Elemente für unmöglich hält. In diesem Sinne bin ich der absolute Anti-Zyniker. Was versteht Fassbinder unter „bürgerlichem Zynismus“?

Er findet Ihre Bourgeoisie-Kritik letztlich affirmativ.

Ich kann doch nicht affirmativ sein und gleichzeitig keinen Sinn für Gut und Böse haben! Fassbinder steckte voller Widersprüche – nicht ich.

Ihre Filme handeln immer wieder vom Faschismus, von „Die Cousins“ bis zu „Das Auge von Vichy“, und Sie erklärten, Sie seien sensibel für eine gewisse deutsch-romantische Atmosphäre.

Damals, 1958, bei „Die Cousins“ war das unglaublich: Ich zeigte einen Typ mit faschistischen Tendenzen und wurde als Filmemacher beschuldigt, Faschist zu sein. Dazu kam noch, daß ich vorübergehend Jura in der Rue d'Assas [eine der rechtsradikalsten Fakultäten in Paris; Anm. d. A.] studiert hatte und auch mit Le Pen befreundet war, ohne seine politischen Ansichten zu teilen. Für die deutsche Romantik bin ich sensibel, und ich weiß, daß ein Teil der Anziehungskraft der Nazis von ihr ausging.

Daher auch die Geschichte mit „Hitler, der letzte Romantiker“. Die Romantik ist eine verrückte und individuelle Vision, eine radikale Subjektivität, die sich vom Rest der Welt abgrenzen will. Dasselbe hat Hitler versucht. Er ist nicht der letzte, sondern der größte Romantiker. Daher bin ich auch so unromantisch. (lacht) Das hindert mich aber nicht, Goethe zu lieben.

Interview: Marcus Rothe