Kapitalismus pur

Wenn in Moskau ein Westauto abhanden kommt, rechnet wohl kaum ein Ex- Besitzer mit einem Wiedersehen. Ab und zu geschehen freilich auch Wunder – doch die sind nicht billig.  ■ Aus Wolgograd Klaus-Helge Donath

Ja, wo isser denn? Abends stand er noch da. Nun ist er verschwunden. Auch das noch. Gestern hatte das Parlament wieder einen Aufstand geprobt, jetzt schien ein wenig Ruhe einzukehren. Zeit, um sich endlich mit dem Nötigsten einzudecken. Und dann dies. Fünfmal hatte man ihn schon geknackt. Nun, beim sechsten Mal, hatte man ihn ganz mitgehen lassen. Vor ein paar Tagen war gerade die zweite Alarmanlage montiert worden.

Statt Einkaufen nun ein Tag auf dem Revier. Mein Verhältnis zu den hiesigen Ordnungskräften ist seit jeher äußerst gespannt. Eine besondere Schwäche hege ich für die Mitwirkenden der GAI, der Verkehrspolizei. Kein Tag an dem sie mich nicht anhielten, kein Tag an dem nicht eine ihrer Familien ernährt werden wollte. Mit einem Wort: legalisierte Wegelagerer. Und nun also ab aufs Revier. Der Abschnittsleiter zeigt kein großes Interesse – geschweige denn Mitgefühl. Eigentlich sei ich selbst schuld, als Westler hätte ich den Kapitalismus importiert, jetzt müsse ich mit den Folgen leben.

„Ohnehin für die Katz, irgendein Kolchosdirektor fährt schon mit ihm rum. Ihr Auto war sicherlich bestellt.“ Schließlich wird das Protokoll doch aufgenommen, widerwillig, ein Akt für die Ablage.

Und dann plötzlich dies: Ein Bote streckt eine Vorladung entgegen. Auf dem 3. Revier melden, noch heute. Vierzehn Monate sind seit meinem ersten Polizeibesuch vergangen. Am andern Ende meldet sich Wladimir Nikolaijewitsch: „Wir haben deinen Wagen sichergestellt. In der Nähe von Wolgograd. Komm her.“ Als Anhängsel der Macht darf er erniedrigen. Das du setzt er ein wie ein Scharfschütze. In diesem Fall ist es egal. Euphorisiert von der Effektivität der Fahnder, benommen von Rußlands Weg in den Rechtsstaat sehe ich ihm das nach. Doch anerkennende Worte überhört Wladimir. Statt dessen kommt er gleich zur Sache. „Wann holen wir ihn ab?“ Er muß also mit, um das Auto an Ort und Stelle auszulösen. „Was machen wir dann? Fährst alleine zurück?“ Wladimir kennt eine Reihe Schauergeschichten.

— „Also zusammen, überleg's Dir!“ — „Wieviel ...?“

— „Ihr Deutschen seid ziemliche Geizhälse, weiß ich schon“.

Das Feilschen beginnt. Er tut so, als sei es ein Akt der Barmherzigkeit. Seine Augen verraten es dennoch: ihm scheint ein guter Coup gelungen. Vor der Bahnfahrt ruft Wladimir ein paarmal an: „Brot mitgenommen, Zigaretten ...?“ Für Russen ist jede Reise, ob zwei Stunden oder zwei Tage, eine Mast. Kaum im Coupé will er alles ausbreiten. Marinierte Gurken, Schinken, gegrillte Hühner, Wurst und eingemachten Kohl, Eier ... „Los, laß uns was essen.“

Fünf Minuten später: „Was dagegen, wenn ich einen klitzekleinen Wodka trinke?“ Selbstverständlich nicht, ich greife in die Tasche und reiche ihm meine Flasche. Wladimir erzählt von seiner Arbeit. Wie er sich etwas dazu verdient, von den kleinen Gangstern und den großen. Ihn kümmert es nicht, wem er Leibschutz bietet. Keine Frage, er ist ein Grenzgänger zwischen den Welten. Nach einer Stunde ist die Flasche leer und Wlads Zutrauen gewachsen. „Wie hältst du's mit der Versicherung, wirst du zurückzahlen? Ich könnte Dir einen neuen Fahrzeugschein ...“ Wir holen die nächste Flasche aus dem Speisewagen. Wlad findet Gefallen an einer Marketenderin, küßt ihre offenherzige Brust und lädt sie ein ...

Michailowka heißt die Bahnstation, wo wir aussteigen. Es ist früher Morgen. Das Nest träumt noch im Schnee. Auf der Polizeiwache ist der „Natschalnik“ – der Chef – noch nicht zur Stelle. Ich sehe meinen Wagen von Ferne hinter einem Zaun, ein scharfer Hund bewacht ihn. Wladimir verschwindet in einem Hinterzimmer. Lachen und Tuscheln. „Sie sind zufrieden mit Fünfzigtausend Rubeln“ – rund 50 Mark –, meint er augenzwinkernd nach einer halben Stunde. Wieder heißt es warten. Endlich der Hauptmann! Formalitäten werden erledigt. Er sitzt noch nicht, da reicht ihm ein Untergebener schon eine Flasche rein. Der Natschalnik trägt das Rosa seiner Leidenschaft im Gesicht. Ich bezahle die Standgebühren.

Dann gehen wir besichtigen. Die Interimsbesitzer waren zweifelsohne Liebhaber. Neue Breitbandreifen haben sie aufgezogen, sogar ein Schiebedach installiert, und auch die Sitze sind neu. Hinten hatte ich nun die langersehnte Anhängerkupplung. Einziger Nachteil: Der ertappte Eigentümer hatte vor Wut die Schlüssel mitgehen lassen. Der Natschalnik zieht mich beiseite und ruft Hauptmann Igor Wassiljewitsch, der hinter einem nagelneuen amerikanischen Jeep hervorkommt. „Sie verstehen doch Russisch? Hauptmann Wassiljewitsch hat Ihren Wagen gefunden ... Sie verstehen doch ... oder ...?“ Sogar die Grobheiten. Ich reiche Wassiljewitsch die Hand zum Dank und stecke ihm was zu. Der Natschalnik hat seinen Sozialauftrag erfüllt, während Wlad schon wieder verschwunden ist. Er sitzt bei Alexej Iwanowitsch im Kabuff. Sie tauschen ihre Koordinaten aus, für alle Fälle ...

Wlad deckt sich auf dem Markt noch mit dem Notwendigsten ein. Das macht er immer auf Dienstreisen. Er kauft einen Sack frischer Wolgafische und den geräucherten Brustkorb einer Kuh. Wir verstauen alles hinten im Wagen. Da ruft einer. „Kommt mal rüber!“ Ein fliegender Fleischer bietet zum Dumpingpreis den gehäuteten Skalp einer Kuh feil. Wlad kann nicht widerstehen.

Zurück in Moskau, steht auf einmal Wolodja vor der Tür, der zwischenzeitliche Besitzer. Ein Russe aus Lettland. Er möchte den Wagen zurück und läßt nicht locker. Von mir erwartet er einen Akt der Barmherzigkeit. Er zieht alle Register. Ein Russe in Lettland, ich wisse es ja, sei ungeliebt, bald müsse er das Land verlassen. Hat er es wirklich nicht gewußt, nicht einmal geahnt? Jeder weiß, welch schwunghafter Handel im Baltikum mit geklauten Wagen aus Ost und West getrieben wir. Halt, woher hat er überhaupt meine Adresse? Grenzgänger haben ein gutes Auskommen ...