"Es gibt zu viele Buddenbrooks"

■ Der Speckgürtel ist nicht der Hauptgrund für die Berliner Krise / "Nicht ganz Berlin ist Innenstadt"

Eine These, die selbst in Unternehmerkreisen diskutiert wird, besagt, daß Berlin wegen der jahrelang gewährten Wirtschaftsförderung kaum innovativ tätig wurde. In diese Stadt sei man entweder als Finanzjongleur gekommen oder um billig zu produzieren. Die Fähigkeit zur Ausschöpfung von Steuervorteilen brachten viele gleich mit. Über die Entwicklung des Berliner Wirtschaftsraums, die gegenwärtige Krise und Wege zu ihrer Überwindung sprach die taz mit dem Leiter der Abteilung Recht und Stadtentwicklung bei der Industrie- und Handelskammer, Volkmar Strauch.

taz: Vor drei Jahren hat man Berlin als „dynamische Region im Aufbruch“ bejubelt. Die Euphorie dauerte kaum ein Jahr. Ist die Berliner Wirtschaft träge und knabbert am Speck der fetten Jahre?

Strauch: Träge ist sie nicht. Ich glaube vielmehr, daß sie bestimmte Trägheitsmomente, die sie vorher hatte, nun ablegt, weil ihr der Wegfall der Berlinförderung und das schwierige weltwirtschaftliche Umfeld einfach keine andere Wahl lassen. Insoweit haben wir eine aktive Situation, die sich allerdings noch nicht in höheren Beschäftigungszahlen niederschlägt.

Bekanntermaßen ist das Gegenteil der Fall.

Das stimmt für den Westteil der Stadt. Im Ostteil stabilisiert sich die Zahl der Beschäftigten langsam, wobei dort der Abbau allerdings gravierend war. Im industriellen Bereich zum Beispiel sank die Zahl der Beschäftigten von 180.000 auf 40.000.

Umsatzeinbrüche tun jetzt schon den Großunternehmen weh. Halten Kleinunternehmen dem Druck gar nicht mehr stand und gehen pleite?

Die kleinen und mittleren Unternehmen sind oft anpassungsfähiger als die großen. Man geht davon aus, daß die Kleinen und Mittleren deshalb auch besser durchkommen. Das gilt natürlich nicht, wenn die kleinen und mittleren Betriebe von den großen abhängig sind, zum Beispiel die Zulieferbetriebe. Aber Spezialisten oder regionale Marktversorger stehen vergleichsweise günstig da.

Auch die Existenzgründer?

Ein Teil der Existenzgründer hält nicht durch wegen schlechter Kapitalausstattung, wenig Erfahrung im Marketing oder weil sie ihre Märkte doch nicht gefunden haben.

Das ist aber kein Berliner Problem, sondern das kann jeden Neuunternehmer treffen.

In Berlin und den neuen Bundesländern kommt noch hinzu, daß ein Teil der Beschäftigungslosen den Schritt in die Selbständigkeit nicht immer ganz freiwillig, sondern notgedrungen, aber doch verfrüht gemacht hat. Viele sind ohne Kapitalreserven für Konjunkturkrisen.

Mühe bei der Wohnungssuche, teure Gewerbemieten, Kürzungen bei Kultur und Bildung – bietet denn Berlin überhaupt guten Dünger für wirtschaftliches Wachstum, oder ist „Boomtown Berlin“ jetzt ein potemkinsches Dorf?

Das sind viele Thesen auf einmal. Ich denke, daß Berlin zwar nicht optimal ist, aber im Vergleich zu anderen Standorten ist Berlin gegenwärtig einer der besten.

Ist das Ihr Ernst?

Ja, denn Berlin hat trotz aller Unkenrufe unbestreitbare Vorteile. Nennen Sie mir doch mehr als eine andere Region in Deutschland mit über vier Millionen Konsumenten.

Fragt sich, ob bei denen derzeit auch die Kaufkraft vorhanden ist.

Der Einwand ist zwar nicht falsch, aber auch bei stagnierender Kaufkraft bleibt es doch eine Kaufkraft von vier bis fünf Millionen Menschen. Und die Kaufkraft stagniert ja auch anderswo. Diese Größe der Region ist für Unternehmer attraktiv. Sie haben Vorteile durch das Arbeitskräftepotential: Westberlin mangelte es an qualifizierten Industrie-Arbeitnehmern, in Ostberlin gibt es sehr viele. Und wenn Sie sagen, die Gewerbeflächen seien teuer, dann finden Sie andererseits in kaum einer Großstadt noch so viel bebaubare Fläche wie in Berlin.

Wie hat sich denn Berlin in den letzten drei Jahren wirtschaftlich entwickelt?

Vor drei Jahren haben wir gerufen „Kräne statt Pläne“. Dann hat man eine Weile nur Bagger gesehen, jetzt sind wir aus der Bagger- Phase heraus, und es stehen die Kräne. Immerhin haben wir an vielen Ecken die Planungen abgeschlossen, und eine Reihe von Planungen werden realisiert. Das betrifft nicht nur den Potsdamer Platz, sondern auch ganz unbeachtete Orte, wie die ehemalige Knorr-Bremse am Ostkreuz: Still und leise wurde umgebaut, und heute arbeiten dort 2.500 Angestellte der BfA. Auch in Weißensee gibt es Neubauvorhaben und Großreparaturen, über die kein Mensch redet. Man hat den hohen Grad an Unsicherheit an vielen Stellen abgebaut. Die Umsetzung der Hauptstadt-Entscheidung ist mehr schlecht als recht, aber immerhin ist nun der Vertrag in Kraft, man hat Termine und weiß, wann man fertig sein muß. Wir bekommen durch den FNP mehr Planungssicherheit, die Eigentumsklärung vieler Grundstücke ist in Gang gekommen, und eine Reihe von Weichen ist richtig gestellt. In der Verkehrsplanung hinken wir allerdings noch hinterher – zu Lande, zu Luft und zu Wasser.

Welche Auswirkungen haben denn die Abwanderungen von Berliner Unternehmen?

Regioconsult hat für den Westteil der Stadt untersucht, aus welchen Gründen Arbeitsplätze im verarbeitenden Gewerbe wegfallen. Danach ist die Abwanderung in den Speckgürtel nicht der wichtigste. Hauptgründe sind Verkleinerungen, Auslagerungen und Betriebsaufgaben. Als nächstes folgt, daß Unternehmen die gesamte Region verlassen. Sie gehen in Billiglohn-Länder oder ziehen zu ihren Abnehmern in die alten Bundesländer, deren Zulieferer sie sind, und weil sie sich in Westberlin nur mit der Berlinförderung halten konnten. Der nächste Grund ist die Verlagerung von Arbeitsplätzen aus dem Westteil in den Ostteil der Stadt. Neue Unternehmen investieren dort, weil die Förderbedingungen besser sind. Wir haben weiterhin eine „Förder-Mauer“ in der Stadt, die natürlich hilft, Ostberlin voranzubringen, zum Teil aber auch gesamtstädtisch unnötige Betriebsverlagerungen zur Folge hat. In einer ähnlichen Größenordnung bewegt sich die Wanderung in den „Speckgürtel“, der an vielen Stellen aber noch sehr mager ist. Da gibt es wiederum zwei Phänomene: Einerseits ist diese Abwanderung plausibel, weil Berlin aufgrund der Produktionsweise, des Flächenbedarfs oder der Verkehrsanbindung für manche Betriebe keine optimalen Voraussetzungen bietet. Andererseits würden Unternehmen gern in der Stadt bleiben, gehen aber notgedrungen, weil wir noch immer nicht ausreichend geeignete Gewerbeflächen haben, die Miet- und Grundstückspreise für viele Gewerbezweige nicht auf wettbewerbsfähigem Niveau liegen und die Verkehrsanbindung es nicht ermöglicht, die Produkte schnell zu transportieren.

Wer geht denn weg aus Berlin?

Insbesondere Unternehmen mit hohem Flächenbedarf, wie Speditionen, großflächiger Handel und bestimmte Produktionen. Denen folgen Zulieferer und produktionsnahe Dienstleistungen.

Macht Ihnen das Sorgen, oder ist das ein normaler Prozeß der wirtschaftlichen Konsolidierung?

Ein Teil davon ist ein normaler Prozeß, ein Teil macht uns Sorgen, denn 150.000 bisher in der Industrie Beschäftigte finden nicht ausschließlich im Dienstleistungsbereich neue Arbeitsplätze. Ärgerlich finde ich vor allem, wenn kleine Betriebe mit qualifizierten Arbeitskräften rausgehen, weil sie hier keine vernünftigen Flächen finden. Man kann nicht jede Fläche preislich so betrachten, als diene sie für ein Bürohochhaus.

Um Profitverzicht zu betteln hat wenig Sinn. Wie sagen Sie das denn den Veräußerern von Grundstücken?

Man kann das Problem planungsrechtlich entschärfen, indem das Land Berlin mehr Flächen für produzierendes Gewerbe ausweist. Wenn in Marienfelde 700 Mark – oder neuestens 500 Mark – pro Quadratmeter verlangt werden, kann das ein normaler Industriebetrieb nicht bezahlen, ohne seine Eigenkapitalbasis so zu schwächen, daß er bei der nächsten Krise pleite geht. Man muß diesen Preis halbieren. Allerdings meine ich, daß viele Unternehmen die Stadt nicht nur wegen der Preise verlassen haben, sondern zum Beispiel auch wegen fehlender Erweiterungsmöglichkeiten oder verschlechterter verkehrlicher Erreichbarkeit. Von der berühmten Nutzungsmischung reden zwar alle; aber die Praxis sieht oft nicht sehr mischungsfreundlich aus.

Das ist doch positiv, wenn Betriebe mit starkem Lieferverkehr vor die Stadt ziehen.

Es entlastet die Stadt zwar vom Lieferverkehr. Es belastet sie aber um so mehr mit Pendlern. Denn die Arbeitskräfte wohnen ja weiterhin in Berlin und nicht dort, wo die neue Arbeitsstätte entsteht. Marzahn und Hellersdorf zum Beispiel sind mit Arbeitsplätzen stark unterversorgt, und darum ist es ganz wichtig, Gewerbegebiete wie die Wolfener Straße zu entwickeln. Außerdem ist Berlin so großflächig, daß man nicht die gesamte Stadt als Innenstadt sehen kann. Berlin hat viele Zentren, und dazwischen muß Raum für produzierendes Gewerbe sein. Wenn ich an den Handel denke, macht mir vor allem eines Sorge: Der Verkehr nach Waltersdorf zum Beispiel verstopft mittlerweile Köpenick. Die Köpenicker, die in Waltersdorf einkaufen wollen, kommen schwer hinaus, und die Köpenicker, die in Köpenick einkaufen wollen, kommen nicht mehr nach Köpenick hinein. Mit der Verlagerung bestimmter Handelsbetriebe erzeugen Sie Verkehrsströme, die die Innenstädte kaputtmachen. Man muß sich stadtplanerisch überlegen, ob es ein vernünftiges Konzept ist, Fachmärkte in einer solchen Größenordnung an Autobahnstandorten anzusiedeln.

Was müßte man denn mehr unternehmen, was mehr unterlassen?

Vorhandene Standortstärken müssen gehalten und ausgebaut werden. In Berlin sind das zum Beispiel die Elektrotechnik und der Maschinenbau. Uns fehlen noch mehr Unternehmenszentralen, denn in deren Nähe siedeln zahlreiche Dienstleistungen. Immerhin hat die Deutsche Bahn AG, das größte deutsche Unternehmen, seinen Sitz in Berlin und verlegt einige Ressorts – aber nicht genug! – nach Berlin. Ein weiterer Faktor ist die Wissenschaft. Natürlich sollen Hochschulen auch Teile für ein Weltraumshuttle, das weit weg von hier montiert wird, entwerfen. Aber genauso wichtig ist es, daß die Berliner Wissenschaftler fragen, was die Wirtschaft in Berlin benötigt. Umgekehrt muß die Wirtschaft auch an die Hochschulen herantreten und konkret sagen, wo sie Hilfe erwartet.

Und wie wirtschaftskräftig ist die Kultur?

Kultur ist nicht nur ein weicher Standortfaktor, und wirtschaftlich bedeutet sie auch mehr als das Essen oder das Bier in der nahegelegenen Kneipe nach dem Kinobesuch. Kultur selbst ist ein Wirtschaftswert. Ich finde es ärgerlich, daß zum Beispiel die kulturellen Leistungen, die drei Berliner Opern und die vielen Orchester bringen, nicht viel stärker von Berlin aus durch die Kommunikationsindustrie vermarktet werden. Es gibt viele direkte Beziehungen zwischen dem öffentlich und dem privat finanzierten Kulturbereich. Nehmen Sie zum Beispiel das Schauspiel: Ein guter Schauspieler geht gern an die Bühne einer Stadt, in der es auch ein Synchronstudio gibt. Wir brauchen die Schaubühne und das Deutsche Theater also nicht nur deshalb, weil wir gute Theater brauchen, sondern wir brauchen sie auch, um zum Beispiel die Synchronindustrie an Berlin zu binden.

Durchhalteparolen gibt es derzeit zuhauf: Gefragt seien Mut und Elan, nicht Selbstmitleid, Vorausschauen statt zurück – setzen Sie da noch eins drauf?

Nein, denn es gibt keine großen Lösungen. Jeder Betrieb muß jetzt für sich seine Stärken erkennen und entwickeln, die eigenen Stärken von Überflüssigem entschlacken. Das gilt übrigens erst recht für die Verwaltung.

Heißt das, bisher ist alles zu sehr ausgewuchert? Man hat das Mögliche getan, nicht das Nötige?

Man hat sich hier und dort zuwenig auf das Wesentliche konzentriert. Deutschland ging es lange vergleichsweise gut, und der Veränderungsdruck war gering. Dadurch haben wir einen „timelag“ bei den Innovationen. Mosdorf spricht in einer Buchrezension von einem „Gesetz des bremsenden Vorsprungs“, das uns hindere, rasch und beherzt auf neue Anforderungen zu reagieren. Wir müssen dieses Gesetz außer Kraft setzen. Mosdorf benutzte die Formel: Wir hätten in Deutschland zu viele Buddenbrooks der dritten Generation und zu wenige Boschs der ersten Generation. Da der Vorsprung weg ist, gibt es auch nichts zu bremsen. Interview: Andreas Lohse