Vom Völkermord berichten

Die Massaker in Ruanda vollziehen sich fast ohne Bilder, ohne Öffentlichkeit, ohne Namen / Wie soll man berichten, ohne zu ermüden? / Korrespondenten zwischen Hilflosigkeit und Ekel  ■ Aus Nairobi Bettina Gaus

Die Angestellten des Ibis-Hotels in der südruandischen Stadt Butare sind massakriert worden. Alle mit Macheten zu Tode gehackt. Das haben Mitarbeiter des Internationalen Roten Kreuzes berichtet, die vergeblich versuchten, sich schützend vor die Opfer zu stellen. Sie wurden selbst sofort bedroht und so zu hilflosen Zeugen des Blutbads.

Alle tot? Also auch der Barmann und die Kellner, mit denen der Kollege der Nachrichtenagentur AP vor zwei Wochen zur vorgerückten Stunde getrunken und herumgealbert hatte, in einer seltsam euphorischen Stimmung, die vielleicht jener geglichen hatte, von der Zeitzeugen angesichts der mittelalterlichen Pest berichteten?

Alle tot? Also auch Marie Nyanawumuntu, das Zimmermädchen, das versucht hatte, bei meiner Abreise meine Befürchtungen zu zerstreuen, und mich tröstend in den Arm genommen hatte? „Vielleicht werden wir ja überleben“, hatte sie gesagt, als ich im sicheren Auto und im Besitz eines kostbaren europäischen Passes das Land verließ, das seit dem mysteriösen Tod seines Präsidenten Juvénal Habyarimana durch einen Flugzeugabsturz am 6. April Schauplatz grauenvoller Gemetzel ist.

Ich hatte mir Sorgen um Marie gemacht, die schon bei einem früheren Aufenthalt von mir im Ibis- Hotel ganz besonders hilfsbereit und freundlich gewesen war. Was bleibt einem in einer derartigen Situation zu tun? Gar nichts. Mir jedenfalls war nichts eingefallen.

„Die Massaker haben plötzlich ein Gesicht“, meinte der Kollege von AP, als er von dem Blutbad erfuhr. Ungläubiges Erschrecken lag in seinem Blick. Massenmorde sind anonym. Wen man kennengelernt hat, dem kann so etwas nicht zustoßen. Anders ließe sich der Gedanke an das, was sich seit drei Wochen in Ruanda ereignet, nicht ertragen. „Ein Toter ist eine Serie wert, tausend Tote sind eine Meldung“ – der alte Journalistenspruch spiegelt in all seinem Zynismus auch Ohnmacht wider.

Leichen, die in Massengräbern verscharrt werden, haben keine Eltern, keine Kinder, keine Freunde. Sie bleiben namenlos. Was läßt sich über sie berichten? Wie oft können Massaker, die sich aus der Entfernung auf schreckliche Weise gleichen, beschrieben werden? Wann wird bei Außenstehenden Entsetzen zu müder Gewöhnung?

Die Angestellten des Ibis-Hotels sind bereits sei über einer Woche tot. Angesichts des landesweiten Grauens war dieses eine Massaker nicht spektakulär genug, um im Ausland Aufmerksamkeit zu erregen. Butare geriet dennoch in die Spalten der Auslandsseiten: 170 Patienten und einheimische Mitarbeiter des Krankenhauses sind dort ermordet worden. Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ hat daraufhin ihre Mitarbeiter aus der Kleinstadt abgezogen – auch diese hatten nichts tun können.

Bleiben oder gehen? Die Frage stellt sich jedem der wenigen noch in Ruanda verbliebenen Ausländer und ihren Auftraggebern. Hilfsorganisationen haben den Abzug der meisten UNO-Soldaten aus Kigali scharf kritisiert. Tausende seien damit dem sicheren Tod überantwortet worden, wurde gesagt. Hätten die ausländischen Militärs die Familien, die sich zu ihnen geflüchtet hatten, wirklich schützen können, ohne selbst zur kämpfenden Partei zu werden? Wie groß wäre der dadurch angerichtete Flurschaden geworden? Wäre es nicht andererseits wenigstens den Versuch wert gewesen, einige Menschenleben zu retten? Wären die UNO-Soldaten auch dann abgezogen, wenn nicht Schwarze, sondern Weiße bedroht gewesen wären? Lauter offene Fragen. In anderen Kriegen mögen fremde Helfer größeren Gefahren ausgesetzt sein als in dem zentralafrikanischen Land. Die Zahl der ausländischen Opfer ist noch immer vergleichsweise gering. Beispiellos jedoch ist das Ausmaß der zielgerichteten, systematischen Behinderung, die Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bei ihrer Arbeit erleben – in der Hauptstadt Kigali ebenso wie im Landesinneren.

„Das Schreckliche ist, daß wir uns in Kigali ein bißchen wie Touristen fühlen“, meint Paul Grossrieder, stellvertretender Leiter der Abteilung Operationen beim Internationalen Roten Kreuz (ICRC). „Wir können uns umschauen, uns bewegen – aber das ist auch schon alles, wenn man vom Krankenhaus einmal absieht. Sobald wir versuchen, irgend etwas außerhalb des Krankenhauses zu tun, stehen wir sofort den bewaffneten Gruppen gegenüber.“

Seit Verwundete vor den Augen der ICRC-Mitarbeiter von Lastwagen gezerrt und ermordet worden waren, werden Verletzte in Ruandas Hauptstadt nicht mehr geborgen. Hilfe kann nur dem zuteil werden, der es aus eigener Kraft ins Krankenhaus schafft.

Immer wieder aber schöpfen Helfer Hoffnung, daß sich im Einzelfall durch Überreden und Überzeugen etwas erreichen läßt: Angehörige des ruandischen Roten Kreuzes verhandelten mit Milizen, die rund fünfhundert Meter vom ICRC-Krankenhaus entfernt eine Straßensperre errichtet haben. Nach zähem Ringen wurde ihnen freies Geleit für drei verwundete junge Mädchen zugesichert. In diesem einen Falle, also doch, entschloß man sich zur Bergung der Verletzten. Ein sinnloses Risiko: An der Sperre wurden die Mädchen aus dem Auto gezerrt und mit Macheten zu Tode gehackt.

Waren die Verhandlungen ein grausames Spiel der Mörder gewesen? Hatten sich kooperationswillige Milizen nicht gegen ihre gewalttätigen Kumpane durchsetzen können? Starben die Opfer aus einer Laune des Augenblicks heraus? Hätten sie – vielleicht – tatsächlich überlebt, wären sie fünf Minuten früher oder später an der Sperre angekommen?

Die Antwort auf wenigstens eine dieser Fragen könnte Aufschluß liefern über das, was in denjenigen vorgeht, die seit Wochen ihre Landsleute in einem Meer von Blut ertränken. Der Ursprung des Konflikts ist bekannt: Als im August 1993 nach dreijährigem Bürgerkrieg ein Friedensvertrag zwischen der ruandischen Regierung und der Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas) unterzeichnet worden war, löste dieses Abkommen in weiten Teilen der Bevölkerung existentielle Ängste aus. Soldaten fürchteten angesichts einer geplanten drastischen Verkleinerung der Armee um ihre berufliche Zukunft. Kleinbauern in dem am dichtesten besiedelten Staat Afrikas sahen der bevorstehenden Rückkehr von Hunderttausenden von Flüchtlingen, die seit Jahrzehnten im Exil leben, mit Sorge entgegen.

Die ökonomischen Probleme und das Tauziehen um die Macht haben eine alte Feindschaft neu belebt: die Rivalität zwischen der Bevölkerungsmehrheit der Hutu und den ursprünglich feudalistischen Tutsi, die in Ruanda erst kurz vor der Unabhängigkeit 1962 ihre beherrschende Stellung verloren hatten. Die meisten der Ruander im Exil gehören zu dieser Minderheit, die auch das Rückgrat der RPF bildet.

Aber diese nüchternen Fakten scheinen gerade nur die Oberfläche des tiefen Hasses zu streifen, der sich jetzt in Ruanda Bahn bricht. Auch in der Vergangenheit ist es immer wieder zu Massakern gekommen. Der zentralafrikanische Staat ist bettelarm. Der Bürgerkrieg hat tiefe Wunden geschlagen und zahlreiche Opfer gefordert. Dennoch aber ist das kleine Land keine Region, in der Jahre des Leids eine kollektive Verrohung erwarten lassen können. In weiten Gebieten verlief das Leben in geordneten und friedlichen Bahnen. Viele derjenigen, die jetzt Landsleute niedermetzeln, sind selbst niemals Opfer von Gewalt gewesen. Aber die mordenden Soldaten und Milizen scheinen in der Bevölkerung Unterstützung zu finden. Die systematischen Massaker ereignen sich im ganzen Land, im Norden, im Süden, in kleinen Städten, in ländlichen Gebieten. Was ist es, was dieses im Wortsinne unfaßbare Ausmaß an Grausamkeit auslöst?

Die Frage wird in diesen Tagen immer wieder auch in Journalistenkreisen diskutiert. Selten distanziert, niemals begleitet von der Wildwestromantik, die den Erzählungen mancher Kollegen aus der umkämpften somalischen Hauptstadt Mogadischu anhaftete. Von denen, die in Kigali gewesen sind, mag kaum einer detailliert über seine Erlebnisse berichten. Angewidert, ratlos, zornig ist die Gesprächsatmosphäre.

Das Bedürfnis nach Erklärungen ist groß, aber nichts von dem, was vorgebracht wird, vermag so recht zu überzeugen. „Wenn ich so erzogen worden bin, daß ich eine ganze Gruppe der Bevölkerung hasse, dann nutze ich eben die langersehnte Gelegenheit, draufzuschlagen, wenn sie sich bietet“, meint einer. „Wahrscheinlich sehen diejenigen, die da massakrieren, ihre Opfer im Augenblick der Tat gar nicht mehr als Menschen“, glaubt eine Kollegin. Lang aufgestaute Wut über die eigene Ohnmacht angesichts widriger Verhältnisse – Gruppenzwang, dem sich kein einzelner mehr entziehen kann, der sich einmal einer der Banden und Milizen angeschlossen hat – ein atavistischer Trieb des Jägers: alles kann stimmen, nichts muß stimmen.

In Notlagen bedienen sich Hilfsorganisationen häufig der Presse, um ihren Anliegen Nachdruck zu verleihen. Wenn Paul Grossrieder vom Roten Kreuz ein Interview gibt – was wünscht er sich, daß geschrieben wird? Er zögert lange. Dann meint er: „Den lokalen Autoritäten muß klargemacht werden, daß sie ein Minimum von Verantwortung übernehmen müssen, um Zivilbevölkerung und Verwundete zu schützen. Sie müssen dafür irgendwelche konkreten Maßnahmen ergreifen. Diese Botschaft muß transportiert werden.“ Glaubt er, daß die marodierenden Banden die taz lesen? In Ruanda versagen die letzten traditionellen Mittel, mit denen sich in Konflikten Druck ausüben läßt. Die Frage nach der Funktion von Journalismus im Angesicht eines Völkermordes, dem niemand Einhalt gebieten kann, ist schwer zu beantworten. Was ist Chronistenpflicht, wo beginnt der Voyeurismus? Butare ist vom Bürgerkrieg nie erreicht worden. Aber fast unmittelbar nach dem Tod des Präsidenten wurden in der Umgebung der Kleinstadt ganze Tutsi-Familien ausgerottet, Kritiker der Regierung niedergemetzelt. Den mordenden Banden geht es nicht um Beute. Paul Grossrieder hat das Ibis-Hotel einen Tag nach der Ermordung der Angestellten gesehen: „Es war sauber. Küche und Zimmer waren in Ordnung. Wer aufgeräumt hat, weiß ich nicht. An einer Stelle auf dem Boden habe ich dunkle Stellen gesehen. Ich glaube, das war Blut, aber ich bin nicht sicher.“ Als habe eine Neutronenbombe eingeschlagen.

Bislang sind auch Nahrungsmittel und Medikamente von Hilfsorganisationen kaum geplündert worden. Ausländische Spenden, sonst dringend benötigt in jeder Krise auf der ganzen Welt, wären in Ruanda derzeit noch ein sinnloses Ritual, obwohl schon jetzt feststeht, daß nach den Massakern der Hunger seine Opfer fordern wird. Noch aber sind auch Mitleidige in sicherer Entfernung zur hilflosen Untätigkeit verdammt.