■ Nelson Mandela über nationale Zusammenarbeit, über Verzeihung und die Schwierigkeiten des Neuanfangs
: „Wir werden ein, zwei, vielleicht fünf Jahre brauchen ...

taz: Wie werden Ihre ersten Entscheidungen als Präsident aussehen? Beabsichtigen Sie, die Rolle des Präsidenten zu verändern und Ihr Amt aus der Tagespolitik herauszunehmen?

Nelson Mandela: Es ist schwer, alle Veränderungen, die wir machen wollen, zu nennen. Wir haben einen Plan zum Wiederaufbau und zur Entwicklung entwickelt, der einen breiten Bereich im öffentlichen Leben unseres Landes betrifft. Das gilt auch für das Amt des Präsidenten und andere Regierungsstrukturen. Ich werde ein exekutiver, ein geschäftsführender Präsident sein, der im Rahmen einer Regierung der Nationalen Einheit arbeitet. Wir wollen nicht, daß diese Regierung eine leere Hülle wird. Wenn wir schon Parteien in die Regierung der Nationalen Einheit bringen, die mehr als fünf Prozent der Stimmen erhalten, dann müssen sie auch fühlen, daß sie ein vollständiger, gleichberechtigter Bestandteil des Entscheidungsprozesses sind.

Welche Änderungen werden das sein?

Ich möchte darüber noch keine Einzelheiten sagen. Denn selbst wenn wir einen überwältigenden Wahlsieg erringen, müssen wir sehr vorsichtig sein. Wir dürfen nicht die Furcht erwecken, daß wir mit unserer Mehrheit die Minderheit dazu zwingen wollen, unsere Politik zu akzeptieren. Veränderungen müssen unter der kollektiven Verantwortung beschlossen werden, das heißt im Einverständnis aller beteiligten Parteien.

Das klingt wie ein Rezept für die Lähmung der Regierung. Wenn Sie jede Regierungsmaßnahme umfassend konsultieren wollen, wie wollen dann Sie jede der Parteien dazu bringen mitzumachen, vor allem angesichts der Forderungen Ihrer Anhänger?

Können Sie wirklich ernsthaft diese Frage stellen? Wir haben landesweit 26 Parteien. Dank unserer richtigen Politik und Strategie haben wir es geschafft, diese Parteien zusammenzuhalten, und wir haben phantastische Fortschritte gemacht. Die neue Übergangsverfassung hat Mängel, weil alle Forderungen aller Parteien berücksichtigt werden mußten. Aber wir haben sie, das ist unser Erfolg. Wir haben auch diese Wahlen jetzt mit allen Parteien zusammen erreicht, ohne unsere Mehrheit einzusetzen. Unsere Anhänger haben natürlich das Recht, die gleichen Chancen und Rechte zu verlangen, die die Weißen hier in Südafrika oder die Menschen in den Nachbarstaaten besitzen. Aber es wird ein, zwei Jahre, vielleicht sogar fünf Jahre dauern, bis wir wirklich die grundsätzlichen Bedürfnisse angehen können, bevor wir Arbeit, Jobs und Häuser und Wasserklosetts bieten können. Das wird Zeit in Anspruch nehmen, denn wir müssen dafür die Mittel mobilisieren. Aber wenn die Wahlergebnisse verkündet sein werden, beginnen wir damit, diese Probleme anzugehen.

Glauben Sie, daß die Symbole des alten Regimes geändert werden müssen? Ist ein klarer Schnitt gegenüber der Vergangenheit notwendig?

Die Frage ist hier, wie Sie die Forderungen der Mehrheit erfüllen, ohne die Minderheiten in diesem Land zu erschrecken oder einzuschüchtern. Denn trotz unseres Streits in der Vergangenheit: die Weißen haben Kenntnisse und Mittel, die wir nicht haben. Sie sind von ausschlaggebender Bedeutung für die nationale Versöhnung und für den Aufbau einer Nation. Deshalb sagen wir den Weißen: Südafrika ist Ihr Land. Das Programm, die Symbole zu ändern, muß deshalb sehr geduldig und ernsthaft angegangen werden — unter Beteiligung von allen Parteien, so wie wir das seit 1990 getan haben.

Wollen Sie den Namen von Südafrika in Azania ändern?

Ich glaube, das ist etwas weit hergeholt. Dieses Land hieß in seiner ganzen Geschichte noch nie Azania. Die Araber haben mal ein Gebiet nördlich von hier so genannt. Ich persönlich kann mich dafür nicht erwärmen. Ich glaube nicht, daß es eine Notwendigkeit für eine Namensänderung von Südafrika gibt.

Sie haben im Prinzip einer Generalamnestie für Mitglieder der Sicherheitskräfte zugestimmt. Wird es trotzdem eine Wahrheitskommission geben, die sich um Aufklärung bemüht, und wie wird die Vergangenheitsbewältigung funktionieren?

Die Wahrheitskommission soll keine Nürnberger Verfahren eröffnen. Südafrikas Streitkräfte, Polizei, die Geheimdienste und die Verwaltung werden eine wichtige, wenn nicht gar eine entscheidende Rolle in dieser Veränderung spielen. Wer sie dämonisieren will, tut Südafrika einen schlechten Dienst. Sie sind von fundamentaler Bedeutung für die Stabilität in unserem Transformationsprozeß. Die Leute, die im Kampf gegen Apartheid Verbrechen begangen haben, sind begnadigt worden. Es ist deshalb nur fair, daß die Leute, die bei der Verteidigung von Apartheid Verbrechen verübten, in den Genuß einer Amnestie kommen. Bei Vergehen, die zwischen Oktober 1990 und Dezember 1993 begangen wurden, muß unserer Ansicht nach das neue Parlament entscheiden. Leute, die seit Dezember noch Morde verübt haben, wollen wir nicht begnadigen.

Hat die Öffentlichkeit nicht ein Recht zu erfahren, was passiert ist?

Ich glaube nicht, daß wir Leute bloßstellen sollten. Was vergangen ist, ist vergangen. Wir müssen die Wunden der Vergangenheit heilen.

Keine Wahrheitskommission also?

Doch, aber der Name ist nicht wichtig. Sie soll die Unterlagen sammeln.

Bleiben also die Generäle der Polizei und der Streitkräfte im Amt?

Schauen Sie, das Prinzip ist das gleiche bei einem General wie bei einem einfachen Soldaten. Das galt für unsere Leute, das gilt auch für andere.

Sie persönlich, neigen Sie dazu, Begnadigung zu gewähren?

Ich habe während des Wahlkampfs immer gesagt, es hat keinen Zweck, die Leute von anderen Parteien so anzugreifen, daß neue Wunden entstehen. Schließlich wollen wir in einer Regierung der Nationalen Einheit zusammenarbeiten. Ich bin für die Begnadigung. Aber es gibt natürlich die Angehörigen von Opfern, die sehr bitter sind. Aber ich persönlich sage: Laßt die Vergangenheit ruhen.

Was werden Sie mit Rechtsextremisten machen? Sie haben Präsident Frederik W. de Klerk in der Vergangenheit kritisiert, weil er zu sanft mit ihnen umgegangen sei.

Die Nationale Partei hat einmal die gleichen Positionen vertreten, die heute die Rechtsextremisten haben. Die wichtigste Waffe ist Dialog und Kritik, aber kein Zwang. Das hat vor den Wahlen funktioniert, als wir General Constand Viljoen überredet haben, an den Wahlen teilzunehmen und sich von der Konservativen Partei abzuspalten. Ich habe während der letzten Monate mit fast jedem geredet. Ich habe mit allen Polizeigenerälen gesprochen. Ich habe vor drei Monaten mit dem gesamten Stab der Streitkräfte geredet. Und ich hatte Erfolg. Bei allen besteht meine wichtigste Waffe aus Dialog.

Welche Garantien können Sie geben, daß unter Ihrer Regierung gegen Korruption vorgegangen wird und Leute persönlich zur Verantwortung gezogen werden? Der ANC hatte schließlich bis vor einigen Tagen selbst korrupte Regierungschefs aus den Homelands auf der Kandidatenliste.

Also, als erstes ist die Korruption in den Homelands ein Spiegel der Korruption unter der regierenden Nationalen Partei. Wir wissen, die Leute waren korrupt, aber wir kennen auch die Umgebung, in der sie gearbeitet haben. Aber wir werden nicht isoliert handeln. Wir werden die Regierung säubern. Wir haben einen „Public Protector“ eingerichtet, der für Öffentlichkeit und Transparenz sorgen soll. So wie wir selbst eine Kommission eingerichtet haben, die Menschenrechtsverletzungen von unserer Organisation im Ausland untersucht hat.

Aber den Verantwortlichen, die in dem Bericht genannt wurden, ist nichts passiert.

Wir haben die Wahrheitskommission, die sich die entsprechenden Vorgänge ansehen wird. Aber wir dürfen uns solche Fragen nicht isoliert vornehmen. Wir müssen all dies in dem politischen Zusammenhang sehen, der durch das Gebot der nationalen Einheit bestimmt wird. Entsprechend werden wir handeln.

Das Interview führte

Willi Germund am 28.4.1994