Rußland: Alle Bürger an einem Tisch

■ „Pakt für den Bürgerfrieden“ geschlossen / Nationalisten unterzeichnen, Kommunisten und gemäßigte Reformer nicht

Moskau (dpa/AP) – Die politische Elite Rußlands hat sich nach dem blutigen Machtkampf im Oktober vergangenen Jahres zum Gewaltverzicht und zur Wahrung des Bürgerfriedens verpflichtet. Bei einer feierlichen Zeremonie im historischen Georgssaals des Großen Kremlpalastes unterzeichneten unter dem Vorsitz von Präsident Boris Jelzin mehr als hundert führende Persönlichkeiten den „Vertrag über den gesellschaftlichen Frieden“. Neben der Kommunistischen Partei und der kommunistisch orientierten Agrarpartei verweigerten auch der Reformblock Jawlinski-Boldyrew-Lukin sowie zwei Regionen die Unterschrift. Die rechtsextreme Liberal- Demokratische Partei des Nationalistenführers Wladimir Schirinowski stimmte zu.

Zu Beginn der Zeremonie mahnte Jelzin alle politisch Handelnden, die Verfassung streng zu achten. „Wir haben verschiedene Ansichten, aber ein gemeinsames Ziel, das uns vereint – den Bürgerfrieden“, sagte er. „Wir müssen einen Schlußpunkt hinter die gesellschaftliche Konfrontation setzen.“ In Anspielung auf die blutigen Ereignisse im Oktober betonte er: „Wir wollen nicht mehr, daß sich verbale Kriege in Massenunruhen und Straßenkämpfe verwandeln. Wir sind nicht in allen Fragen zur Einigung gekommen, und es steht noch viel Arbeit bevor.“

Das Stillhalteabkommen soll bis zu den kommenden Wahlen von Parlament und Präsident 1996 Stabilität garantieren. Jelzin hatte im Februar angesichts der Amnestie für die Aufständischen vom Oktober dieses Abkommen vorgelegt. Mit dem Vertrag soll die im Dezember 1993 vom Volk angenommene Verfassung noch einmal gestärkt werden. Vor allem von kommunistischer Seite wird das erste demokratische Grundgesetz kritisiert.

„Heute braucht Rußland wie nie zuvor einen Bürgerfrieden“, heißt es in dem Dokument. „Die Seiten verpflichten sich ..., streng die Prinzipien der bürgerlichen Gesellschaft, des Föderalismus, des Rechtsstaates, der Gewaltenteilung, den Vorrang der Menschenrechte ... zu befolgen.“ Gewerkschaften und Unternehmen verzichten laut dem Vertrag, die katastrophale Wirtschaftslage nicht durch überzogene Maßnahmen im Tarifstreit zu verschärfen. Eine Schlichtungskommission soll über die Einhaltung wachen.

Der reformorientierte Block Jawlinski-Boldyrew-Lukin sieht in dem Vertrag nur ein Ablenkungsmanöver Jelzins von der vorrangigen Arbeit an den Reformen. Den Vertrag unterzeichneten unter anderen Präsident Jelzin, die Vorsitzenden der beiden Parlamentskammern, Iwan Rybkin und Wladimir Schumeiko, alle Fraktionen der Staatsduma, Regierungschef Wiktor Tschernomyrdin, die politischen Führer der Regionen, der Patriarch von Moskau und ganz Rußland, Alexi II., Vertreter aller Kirchen und Religionsgemeinschaften, die Chefs der Gewerkschaften und der Unternehmerverbände. Um eine möglichst breite Zustimmung zum „Bürgerpakt“ zu erreichen, hatte Präsident Jelzin in den letzten Wochen besonders den nationalistischen Opponenten eine Reihe von Zugeständnissen gemacht. So verstärkte er die Unterstützung der Serben im bosnischen Konflikt und stellte den bereits geplanten Beitritt Rußlands zur Nato-Partnerschaft für den Frieden zurück.