Frechdachs oder Monster?

■ „Gewalt an Schulen“ – die Schulbehörde hat sich umgehorcht. Ergebnis: Die SchülerInnen sind ein bißchen gewalttätiger geworden / In einem Modellversuch stellen sich die LehrerInnen auf die „veränderten“ Kinder ein

Gaspistolen im Schulranzen, Wurfsterne in der Federtasche, Lehrer mit gebrochenen Armen – sind das nur einzelne, extreme Vorkommnisse? Oder verrohen Deutschlands SchülerInnen allesamt? Unsinn, sagt der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes in Bremen, Uwe Wiest. „Bislang ist wissenschaftlich nirgends bewiesen, daß die körperliche Gewalt an Schulen zugenommen hat. Es sind die Erwachsenen, die mit Argusaugen auf körperliche Gewalt starren – auf die übt Gewalt eine große Faszination aus“.

Doch was soll man von der Bremer Polizeistatistik halten? Die zählt nämlich seit 1990 von Jahr zu Jahr doppelt so viele Anzeigen gegen SchülerInnen, und zwar nicht wegen Lappalien, sondern wegen schwerer Körperverletzung oder Erpressung. Doch auch diese Zahl ist mit Vorsicht zu genießen: Möglicherweise wird einfach mehr angezeigt, weil die Sensibilität für das Phänomen Gewalt an der Schule steigt.

Die Bremer Bürgerschaft wollte es genau wissen: die Bildungsbehörde möge herausfinden, wie sich die Gewalt an Bremer Schulen in den vergangenen Jahrzehnten entwickelt hat. Gut, daß die Bildungsbehörde 1991 schon mal eine Umfrage unter den Bremer Schulen gemacht hat, deren Ergebnisse sie allerdings nie veröffentlicht hat: Die Umfrage ist unter Fachleuten sehr umstritten. Zum einen liegen keine Vergleichsdaten aus vergangenen Jahren vor. Zum anderen wurden nur subjektive Meinungen abgefragt, die Untersuchenden haben nicht selbst wissenschaftlich beobachtet. Trotzdem hat eine Arbeitsgruppe von LehrerInnen jetzt für die Bürgerschaft das fragwürdige Material der Umfrage ausgewertet und zusätzlich ähnlich fragwürdige Einzelbefragungen gemacht.

Gefragt wurde nach Phänomenen von Gewalt. Die LehrerInnen nannten Gewalt gegen Personen und Sachen, verbale Gewalt, Sexismus, Bestechung und Erpressung. Gewaltausdrücke und Drohungen wurden ausdrücklich auch als Gewalt verstanden, weil Vorstufen zu körperlicher Gewalt.

181 Schulen wurden angeschrieben, 90 antworteten. Die Ergebnisse: Eine Zunahme der Gewalt in Schulen stellen 51 Prozent der antwortenden Grundschulen, 33 Prozent der Sonderschulen, eine von drei antwortenden Gesamtschulen und 41 Prozent der Sekundarstufen I fest. Die Schulen der Sekundarstufen II enthielten sich mehrheitlich einer Antwort. „Im Grundschulbereich wird die alarmierendste Zunahme von Gewalt festgestellt“, faßt der Bericht zusammen.

Übrigens haben etwas mehr als fünf Prozent der antwortenden Schulen eine Abnahme von Gewalt und Aggression festgestellt. Diese Abnahme führen die Schulen zum Beispiel auf die Einrichtung von Ruhezonen mit Betreuung, auf geringere SchülerInnenzahlen, auf Gleitzeit-Schulanfang, volle Halbtagsschule oder die Untergliederung der Schule in kleinere persönlichere Einheiten zurück.

Weitere Erkenntis der Umfrage: Vergleicht man sozial nicht benachteiligte Stadtteile wie Bürgerweide, Gete,Schwachhausen mit sozial benachteiligten Stadtteilen wie Gröpelingen oder Oslebshausen, so beobachten die LehrerInnen in Gröpelingen und Oslebshausen wesentlich häufiger Gewalt gegen Personen oder Sachen.

Fazit einer der AutorInnen des Berichts, der Lehrerin Helene Peniuk: „Gewalt in Bremer Schulen nimmt tatsächlich nicht unerheblich zu.“ Doch über die Bremer Befragung wie über ähnliche Studien aus anderen Bundesländern urteilt Jochen Schweitzer, Grundsatzreferent der Bildungsbehörde, klipp und klar: Wie für den angeblich sinkenden Leistungsstandard gebe es auch für die angeblich steigende Gewalt an Schulen bislang keinen wisenschaftlichen Beleg. Im Vergleich der letzten zwanzig Jahre könne allenfalls „eine leicht ansteigende Tendenz des Anteils für Normverstöße im Schulbereich von etwa fünf Prozent angenommen werden“.

Wegen fünf Prozent mehr Gewalt diese ganze Aufregung? Möglicherweise beschäftigt man sich tatsächlich viel lieber mit dem schillernden Phänomen Gewalt als mit anderen, schleichenderen, schwierigeren Veränderungen – denn beim Thema Gewalt kann man sich entsetzen, von „kleinen Monstern“ sprechen, das Problem vielleicht gar Außenseitern anhängen ...

Die viel größeren Veränderungen im Sozialverhalten von SchülerInnen, auf die auch viel schwieriger zu antworten ist, die bleiben erst mal außen vor. In der Bürgerschaftsanfrage, wie zunächst auch in der Umfrage. Mit einer jähen Wendung allerdings spricht Helene Peniuk in ihrem Bericht dann doch davon, daß andere Veränderungen den LehrerInnen viel größere Sorge bereiten als die Gewalt: daß Kinder und Jugendliche heute nur schwer Konflikte ertragen, daß sie Entertainment verlangen und eine schnelle Befriedigung ihrer Bedürfnisse, daß sie die Grenzen zwischen Spaß und Ernst nicht kennen und nicht einhalten, sich nicht konzentrieren können und motorische Defizite haben. Daß sie aber auch einfach frecher und gewitzter geworden sind, ergänzt der Schulpsychologe Wiest.

Hat Pädagogik auf diese neuen Kinder entsprechend reagiert? „Nein“, sagt da der Leiter des Lehrerfortbildunginstitutes WIS, Wilhelm Quante, so entschieden wie zerknirscht. Für unangemessene Lehrerreaktionen hat der Leiter des Schulpsychologischen Dienstes, Uwe Wiest, jede Menge Beispiele: Den Fall jenes Jungen etwa, dessen Mutter gestorben war und der nun mit dem Vater in tiefer Trauer versunken lebte, der vom Vater dann auf die Realschule geschickt wurde, dort Bauchlandung erlitt und, schließlich auf der Hauptschule gelandet, zu prügeln anfing. Ja hätte da nicht der Realschullehrer mal ein paar Klausuren unbenotet lassen können, anstatt dem Jungen eine Fünf nach der anderen reinzusemmeln, fragt Wiest. Vielleicht gar mal mit dem Jungen sprechen sollen? „Wenn ein Lehrer mit dem Schüler nicht spricht, hat der Lehrer keine Konsequenzen zu befürchten, nur wenn er schlechten Unterricht macht.“

Helden und Heldinnen brauchen die Lehrkräfte für solch schülerzentriertes Verhalten nicht zu sein. Im Gegenteil: „Nur nicht immer durchhalten“, meint Wiest. Sondern deutlich machen, welche Störungen man nicht mehr bereit ist auszuhalten, einen Schüler dann ruhig auch vor die Tür setzen, anschließend allerdings miteinander sprechen. Viele LehrerInnen erdulden jedoch sehr lange, weiß Wiest, irgendwann platzt ihnen dann der Kragen, und dann kommt der Fall gleich vor die Schulkonferenz.

Viel lieber sähe der Schulpsychologe, wenn die LehrerInnen öfters mal zur Strategie der sogenannten „kooperativen Verhaltensmodifikation“ griffen: Da machen LehrerInnen und SchülerInnen einen Vertrag, daß zum Beispiel die SchülerInnen weniger stören, die Lehrerin dafür weniger schimpft. Wenns klappt, denkt man sich gemeinsam eine Belohnung aus. Das Verfahren ist effektiv, aber aufwendig.

Neu allerdings ist diese Taktik nicht, genauso wenig neu wieTeamarbeit, Projektunterricht und all die anderen reformpädagogischen Konzepte der 70erJahre. Die allerdings bis heute nicht breit umgesetzt sind – in Wirklichkeit läuft nämlich ein Großteil des Unterrichts weiter als Frontalunterricht: Der Lehrer fragt, die SchülerInnen antworten. Teamfähigkeit der SchülerInnen oder andere soziale Verhaltensweisen werden weder groß gefördert, noch benotet.

Selbstwertgefühl hat man oder erwirbt es sich über gute Leistungen. Nun sei aber gerade die Verletzung von Selbstwertgefühl ein gewichtiger Grund für aggresives Verhalten, sagen die drei LehrerInnen, die den Bericht erstellt haben. Schule sollte also alles tun, das Selbstwertgefühl der Kinder un Jugendlichen zu stärken.

Damit soll es bald auch in Bremen flächendeckend losgehen. In einem bundesweit einmaligen Modellversuch sollen all diese irgendwo schon mal probierten „anderen“ Umgangsweisen mit SchülerInnen gebündelt, neu erprobt und anschließend von WissenschaftlerInnen sowohl als auch von SchülerInnen beurteilt werden – sozusagen eine koordinierte Revolution der Unterrichtspraxis.

Das Ganze wird vom Bund finanziell unterstützt mit 615.000 Mark, läuft seit Januar, insgesamt drei Jahre lang, beginnt in Beruflichen Schulen und heißt „Gewalt in Schule und Gesellschaft: Entwicklung, Erprobung und Evaluierung von präventiven und deeskalierenden Strategien für den Unterricht“. Alle vierzehn Tage lernen die lehrerInnen dann selbst etwas: wie man Konflikte verarbeitet, auch eigene, wie man Elternabende strukturiert, die Eltern auch mehr in die Pflicht nimmt, wie man den Horrortag Montag auch in der Oberstufe entschärfen könnte ...

Herauskommen sollen zum Beispiel Unterrichtseinheiten zum Thema Gewalt sowie Fortbildungskonzepte für LehrerInnen. Fernziel: ein veränderter Umgang mit diesen so veränderten Kindern und Jugendlichen. Oder auch: „der Versuch einer Schulkultur“. Daß man in dieser Kultur des Alles-Miteinander-Beredens auch mit Polizei, Fanprojekten, BewährungshelferInnen, Opferhilfe-Organisationen, versteht sich. Bonn habe den Modellversuch sofort genehmigt, heißt es, sogar noch bevor er richtig konzipiert war.

Viele dieser besonderen Aufmerksamkeiten gegenüber den SchülerInnen kosten Geld. Team-teaching, Interessengruppen am Nachmittag wie Box-AG und türkisches Theater, Hausaufgabenbetreuung, vielleicht gar kleinere Klassen in benachteiligten Stadtteilen, Entlastung der LehrerInnen von Verwaltungsarbeit... „Schau'n Sie“, sagt der getreue Beamte der Bildungsbehörde Wilfried Böhnke, „bei Wahlkämpfen kommt zuerst die Innenpolitk, dann die Außenpolitk, vielleicht an neunter Stelle die Bildungspolitik – aber wenn was passiert, werden wir als erste gefragt: Was hat Schule getan, das zu verhindern?“ In dieselbe Kerbe hauen auch die AutorInnen des Berichts über die Umfrage: „Die Zustimmung der PolitikerInnen zu Kürzungen im Bildungsbereich steht im Widerspruch zu Anfragen zum Thema Gewalt an Bremer Schulen, sie bleibt rein ideell, wo der materielle Handlungsbedarf längst unumgänglich ist.“

Mit Geld, nämlich in Form von Stellen, könnte man auch jenen Rabauken helfen, die all diese medienwirksamen Brutalschlägereien anzetteln, so die These des Schulpsychologen Wiest: „Das sind doch gößtenteils intelligente Schulversager, zum Beispiel welche, die sich aufgrund einer psychischen Belastung schwer konzentrieren können und die dann woanders als informeller Gegner des Lehrers eine Bestätigung ihres Selbstwertgefühls suchen.“ Erkannt werden solche Verhaltensmuster mittlerweile, diagnostiziert zum Beispiel auch die Lese-Rechtschreibschwäche – doch seit Anfang der 80er Jahre, so der Psychologe, seien die Förderstunden rabiat zusammengestrichen worden. Christine Holch