■ Dokumentation
: „Alle Demokraten sind betroffen“

Wilhelm Kaisen wurden nicht eher rasten und ruhen, bis der braune Spuk, vorab die DVU, wieder aus der politischen Szene verschwunden wäre. Ich verkenne nicht, daß es eine schwierige Gratwanderung zwischen der Meinungsfreiheit und ihren Grenzen gibt. Dennoch müssen wir hier sagen: im vorliegenden Fall hat das Oberlandesgericht danebengegriffen.

Doch angesichts der Zunahme des Rechtsextremismus in unserem Land muß es nicht nur erlaubt, sonder sogar unsere Pflicht sein, uns kritisch mit dieser Entscheidung auseinanderzusetzen. Uns insbesondere mit der Frage zu beschäftigen, ob womöglich den Rechtsextremen damit ein Freibrief erteilt worden ist, für Beleidigungen und Verunglimpfungen demokratischer Politiker. Obwohl durch einen Textvergleich der Rede Kaisens vom 17. Juli 1965 unschwer festzustellen ist, daß dieses Zitat in dieser Form und dem zitierten geschlossenem Zusamenhang von Kaisen nicht geäußert worden und somit eine Fälschung ist, kommt das Oberlandesgericht zu dem Schluß, daß es keine Beleidigung oder Verunglimpfung Kaisens ist, wenn die DVU ihn in ihre Nähe rückt, imdem sie ihn als potentiellen DVU-Wähler diffamiert.

Man muß wissen, daß Kaisen in der betreffenden Redepassage ein Pädoyer für die Selbständigkeit Bremens gehalten hat. Und diese Rede soll dafür herhalten dürfen, daß dieser Politiker, der von den Nazis verfolgt worden ist, ausgerechnet von seinen schlimmsten Feinden, den geistigen Nachfolgern der Nazis, politisch vereinnahmt werden kann? Ist es nicht eine Verhöhnung der integren Persönlichkeit Wilhelm Kaisens, von Vertretern der Partei wie die DVU, die wie die REP–s dafür verantwortlich ist, daß die Republik wie nie zuvor von einer Welle des Hasses und Gewalt überschwemmt wird, die politisch verantwortlich ist für unzählige Mord- und Brandanschläge, für ein Wiederaufbrechen des Antisemitismus, vereinnahmt zu werden? Dies soll keine Beleidigung oder Verunglimpfung darstellen?

Die SPD wird sich von niemandem übertreffen lassen, wenn es um die Verteidigung von Grundrechten, vor allem der Meinungsfreiheit, geht. Aber wir sagen auch klar: Die Meinungsfreiheit endet dort, wo sie die Menschenwürde verletzt. Heute ist es Wilhelm Kaisen, morgen sind es Spitta, Heuss oder Adenauer. Alle Demokraten sind betroffen.

Dieses Urteil darf keinen Bestand haben. Die Entscheidung des Senats, Frau Ilse Kaisen Rechtsschutz in dem weiteren Verfahren vor dem Bundesverfassungsgericht zu gewähren, wird daher von meiner Fraktion begrüßt. Alle demokratischen Parteien müssen ein Interesse haben, daß dieses Urteil eine Korrektur erfährt. Die Gerichtsentscheidung gibt keinen Anlaß, Vergleiche mit der antidemokratischen Justiz in der Weimarer Republik anzustellen. Die Justiz in Bremen ist über jeden Verdacht erhaben, womöglich auf dem rechten Auge blind zu sein. Die Entscheidung sollte aber Anlaß geben, einen sachlichen demokratischen Diskurs darüber zu führen, welchen Herausforderungen und Problemen sich die Justiz angesichts der Zunahme rechtsextremer Entwicklungen gegenübersieht und was sie in diesem Zusammenhang zu leisten vermag. Eines steht fest: Nach diesem Urteil ist Nachdenklichkeit angezeigt.

Horst Isola, SPD-Fraktion