„Ihre Meinung interessiert keinen!“

Vom unseligen Pakt in der Universität: Professoren infantilisieren ihre StudentInnen – und die machen mit! Herbe Einlassungen zur Uni-Misere und zum wissenschaftlichen Arbeiten  ■ Von Eva Koch-Klenske

Allzu gern formulieren Professoren den Satz: „Das ist aber nicht wissenschaftlich!“ Welches denn die Kriterien für Wissenschaftlichkeit sind, bleiben Lehrende ihren StudentInnen oft genug schuldig. Das ist nicht etwa Zufall, sondern ein systematisches Versagen in den Universitäten und Hochschulen.

Tatsächlich ist der Ausbildungsstand bei vielen Studierenden viel schlechter als er sein sollte. Vorrangig handelt es sich um Mängel beim wissenschaftlichen Arbeiten. In meiner Beratungspraxis erfahre ich beinahe täglich, daß Studierende mit fast allem Schwierigkeiten haben, was zur Abfassung einer Diplomarbeit gehört. Sie benötigen intensive Anleitung in den Techniken des wissenschaftlichen Arbeitens, aber auch in Fragen der Systematisierung und Argumentation. Dabei stellt sich heraus, daß die meisten von ihnen niemals ein gehaltvolles Gespräch mit einem ihrer Dozenten über die handwerklichen Aspekte akademischer Ausbildung geführt haben – gerade so, als müßten sich die Fähigkeiten zum wissenschaftlichen Arbeiten von allein einstellen.

Eine Folge dieser unklaren Orientierungen und lückenhaften Ausbildung ist, daß zahlreiche Studierende im Verlauf ihres Studiums psychische Probleme bekommen. Sie beginnen an ihrer eigenen Intelligenz und Integrität zu zweifeln. Sie erleben phasenweise oder durchgehend Arbeitsblockaden und entwickeln starke Widerstände gegen die in der Universität praktizierte Form der Wissensvermittlung. Und sie fühlen sich den Hochschullehrern in einer Weise ausgeliefert, die ihre intellektuellen Energien lähmt.

Alle drei psychischen Phänomene – wachsende Minderwertigkeitsgefühle und Versagensängste von Studierenden, der Verlust an Arbeitsmotivation und die zum Teil extrem übersteigerten Autoritätsängste lassen sich mit der schlechten Ausbildung und dem anonymen Klima an den Hochschulen in Zusammenhang bringen. Die Studierenden selber neigen jedoch dazu, ihre Studienprobleme zu individualisieren. Sie wollen alles auf die eigene Kappe nehmen. Sie glauben, zu dumm fürs Studieren zu sein oder bestenfalls noch zu faul. Dies tritt übrigens gern in geschlechtsspezifischer Verteilung auf: Studentinnen wählen zur Selbsterklärung eher das Muster „Dummheit“, Studenten hingegen eher das Muster „Faulheit“. Psychodynamisch gesehen wirkt letzteres längst nicht so verheerend wie ersteres, so daß Studentinnen oft noch stärker von der Universität gebeutelt werden als Studenten. Überhaupt ist für Studentinnen die Spannung zwischen Intellektualität und Weiblichkeit oftmals enorm. Bei der Identitätsbalancierung scheint jedes dieser Teile nur erringbar um den Preis des jeweils anderen. Frauen müssen also, wenn sie Intellektualität wählen, mit „Strafen“ an ihrer Weiblichkeit rechnen. Ich erlebe immer wieder, daß sich gescheite und begabte Frauen bei mir die emotionale „Erlaubnis“ holen, beides zu sein: Frau und Denkende. Dann erst setzen sie ihre eigenen geistigen Potenzen frei.

Für beide Geschlechter gilt, daß Studieren immer auch Identitätsarbeit umfaßt. Studierende vollziehen während des Studiums über den Erwerb von intellektueller Kompetenz, beruflicher Qualifizierung und Verantwortungsbereitschaft einen Schritt hin zum „Erwachsensein“. Werden nun Studienprobleme individualisiert, kommt es zu einer negativen Selbst-Bearbeitung bei der Identitätsbildung. Dies läßt sich daran ersehen, daß zahlreiche intelligente und begabte Studierende und HochschulabsolventInnen eine auffallend negative Selbsteinschätzung haben, was ihre Fähigkeiten angeht. Sie haben während ihrer Ausbildung ganz offensichtlich nie die notwendige und angemessene „Spiegelung“ ihrer eigenen geistigen Leistungen erfahren. Oder anders formuliert: Studierende und HochschulabsolventInnen, denen ich begegne, haben nur in den seltensten Fällen so etwas wie einen „geglückten Dialog“ mit ihren Dozenten erlebt. Das heißt, daß den StudentInnen eine der tauglichsten Grundlagen für gute Lernprozesse schlicht vorenthalten blieb.

Mir scheint, in den geistes- und sozialwissenschaftlichen Fächern, mit denen ich vorwiegend zu tun habe, fehlen zwei wesentliche Dimensionen für gutes Lernen: Kontakt und Kompetenz. Es ist frappierend, wie wenig kompetent die inhaltlichen und methodischen Anleitungen von Hochschullehrern gegenüber Studierenden häufig sind. Und zwischen Professoren und Studierenden herrscht eine unübersehbare Kontaktstörung.

Als Kontaktstörung bezeichne ich, wenn in einem Lehr-Lern-Zusammenhang die Lehrenden vorzugsweise darauf bedacht sind, sich die Lernenden vom Halse zu halten: Was in Seminaren abläuft, spottet oft jeder Beschreibung; professorale Sprechstunden sind eher Sprechminuten, fünf- bis zehnminütige Abwimmelungsmanöver, die nach dem Motto: „Ja, machen Sie mal...!“ abgehandelt werden. Eine Kontaktstörung liegt ebenso vor, wenn Hochschullehrer sich nahezu kollektiv weigern, über die Qualität ihrer Vermittlungspraxis zu diskutieren. Sie weigern sich damit, die StudentInnen als Gruppe wahrzunehmen.

Auf die Frage einer Studentin im Grundstudium, wie sie die Techniken wissenschaftlichen Arbeitens erlernen könne, von denen immerzu die Rede sei, antwortete ihr Professor mißbilligend: „Das hätten Sie in der Schule lernen sollen!“ Eine andere Studentin, die mit einem gut eingegrenzten empirischen Arbeitsvorhaben zu ihrem Betreuer kommt, wird locker aufgefordert, die Studie doch im internationalen Vergleich zu machen. Sie soll also ihren Arbeitsumfang verdoppeln – obgleich empirische Studien ohnehin viel Arbeit machen und Studierende oft methodisch und theoretisch überfordern. Als sei der Beratungsverpflichtung Genüge getan, wenn er nur irgend was vorgeschlagen habe... Überhaupt fordern Hochschullehrer DiplomandInnen offenbar besonders gern auf, Interviews zu ihrem Thema zu machen. Das ist so schön lebendig! Ob es paßt oder nicht, ist nicht wichtig; mit wem das Interview zu führen sei, scheint egal zu sein; und wie die zuvor angebotene Ausbildung in empirischer Sozialforschung war, interessiert schon gar nicht.

Kommt es überhaupt zu inhaltlichen Einlassungen auf die Produkte der StudentInnen, so hören sie offenbar vorzugsweise globale Anregungen oder Verrisse, die nicht präzisiert werden und ihnen demzufolge in ihrem Lernprozeß auch nicht weiterhelfen. Was macht eine Studentin mit ihrem Exposé, wenn sie hört, daß „kein roter Faden erkennbar“ sei? Sie verzweifelt nicht selten – und bekommt Arbeitsstörungen. Hört sie hingegen, daß sie das Thema, die Problemeröffnung, eine focussierende Fragestellung, die Materiallage und schließlich ihre Vorgehensweise darzulegen habe, so sieht die Sache ganz anders aus. Die Exposés übrigens ebenfalls. Der professorale Einsatz: Fünf Worte. Wie es scheint wird der Lernprozeß von seiten der Hochschullehrer derart exzessiv beschwiegen, ja tabuiert, daß am Ende sogar die wohl wichtigste Tugend für systematisches Denken verlernt wird: das Fragen.

Zwischen einer Studienabschlußarbeit und einer Forschungsarbeit können etliche HochschullehrerInnen offenbar nicht genau unterscheiden. Studierende haben mit ihrer Diplomarbeit nichts weiter zu belegen als ihre Fähigkeit, kritisch mit wissenschaftlicher Literatur umzugehen und eine qualifizierte Frage anhand vorliegender Fachliteratur durchzuarbeiten. Sie haben keineswegs eigenständige Forschungsprojekte durchzuführen.

Eine Kontaktstörung herrscht aber auch gegenüber den Gegenständen und Themen in der Hochschule. Dazu bräuchte es einen lebendigen theoretischen Diskurs. Immer wieder reagieren Frauen verblüfft auf meine inhaltlichen Stellungnahmen zu ihren Arbeiten: weil sie in der Universität ernsthafte Diskussionen ihres Themas nicht erlebt haben. So etwas bewirkt zwangsläufig ein Gefühl von Wertlosigkeit und Beliebigkeit, was die eigenen Studien angeht. Motivationsverlust und Arbeitsblockaden scheinen mir geradezu gesunde Reaktionen auf solchen Mangel an intellektuellem Anregungsmilieu!

Tatsächlich haben Hochschullehrer eine Menge mehr mit der Misere an den deutschen Hochschulen zu tun, als ihnen lieb sein dürfte. Die wenigsten von ihnen kennen ihre StudentInnen mit Namen. Studierende verlieren aber, wenn sie in die Universität kommen, nicht nur ihren Namen (immerhin erhalten sie im Gegenzug dafür eine lange Matrikelnummer) sie verlieren schnell auch das Gefühl ihrer eigenen Identität und Subjekthaftigkeit. Eigenverantwortliches Handeln wird dadurch erheblich erschwert.

Kontaktvermeidung betreiben daher nicht nur die Hochschullehrer sondern auch die Studierenden. Obgleich sie durchaus ein Ausbildungsrecht einklagen könnten, setzen sie ihre Professoren auf unterschiedlichste Weise von deren Lehrauftrag frei. Studierende lassen sich nicht nur von Hochschullehrern infantilisieren, sie infantilisieren sich auch selber, sobald sie in der Hochschule ankommen. Sie hören einfach auf, sich wie Erwachsene zu verhalten. Unübersehbar verfallen sie in übersteigerte Autoritätsängste gegenüber Professoren und Professorinnen und lassen diesen daraufhin alles durchgehen.

Warum diese extreme Neigung, zum Kind zu werden? Warum derart viel Angst, daß Situationen nicht mehr angemessen eingeschätzt und mitgestaltet werden können? Immerhin handelt es sich um erwachsene Menschen, die da wie kleine Kinder vor dem Hochschullehrer stehen und zu befürchten scheinen, er könne ihnen bei einem Widerwort gleich eine Ohrfeige verabreichen!

Psychoanalytisch gesehen, existiert zwischen Hochschullehrern und Studierenden offenbar ein unbewußter Pakt, das klassische Familiendrama nachzuspielen: der Professor wird zum Papa und das Studentlein zum Kinde. Vermutlich wuchern die studentischen Autoritätsängste bei vielen deswegen so enorm, weil ihnen frühe autoritäre Erfahrungen zugrunde liegen. Die Begegnung mit Hochschullehrern wiederholt demnach affektiv die Begegnung mit Autoritäten der Kindheit, die aus der Perspektive des Kindes oft gefährlich waren. Jene hatten nicht nur die Deutungsmacht, sondern stets auch die Sanktionsgewalt inne. Im Studium widerfährt Studierenden Vergleichbares. Die „erwachsene“ Position besetzen die Hochschullehrer, und sie selber machen immer wieder Erfahrungen der Ohnmacht, des „Kind-Seins“: Sie wissen (noch) nichts und sind zudem (prüfungs-)abhängig von ihren Professoren.

Studierende müssen ständig damit fertigwerden, für Professoren als eine Art Belästigung zu gelten. Die darin angelegte Kränkung, keine Wertschätzung beim Gegenüber zu finden, wird eher depressiv nach innen, als aggressiv nach außen gewendet: Selbstzweifel also statt Kritik. Die Verschreibung funktioniert gut: Die Studierenden übernehmen die Perspektive des Belästigenden. Sie verlieren dabei völlig aus dem Blick, daß Hochschullehrer dafür bezahlt werden, ihnen etwas beizubringen. Verschärfend wirkt, daß in der Hochschule sehr aktiv und sehr durchgehend versucht wird einzuschüchtern. Tatsächlich habe ich selten bei einem Berufsstand so ungeniertes autoritäres Gebaren erlebt wie bei Hochschullehrern. Eine Studentin, die in ihrer Hausarbeit am Ende eine eigene Stellung zum Thema bezogen hatte, wurde angeblafft: „Ihre Meinung interessiert hier keinen! Hier geht es um die Wissenschaft!“

Offenbar entsteht also in der Universität durch das Verhalten vieler Professoren ein solches Drucksystem für Studierende, daß sie freiwillig in die Defensive gehen und wieder zu Kindern werden. Sie lassen sich anblaffen, einschüchtern und entwerten, ohne sich zu wehren.

Wir können folglich sagen, daß in der Hochschule nicht nur alte Autoritätsängste aktualisiert, sondern systematisch neue Ängste erzeugt und falsche Autoritäten gesetzt werden. Ängste vor den universitären Wissenschaftsmythen, die Hochschullehrer naiv oder absichtlich mitentwerfen, statt sie durch intellektuelle Bearbeitung zu entzaubern. Und falsche Autoritäten, insofern es sich einerseits um Abstraktionen handelt („die Wissenschaft“), andererseits um Personen, die ihre eigene Integrität und Leistung nicht offen ausweisen müssen und damit das Anrecht auf Autorität schlicht schuldig bleiben.

Da es sich hier partiell auch noch um Abhängigkeitsverhältnisse handelt, verwundert kaum, daß die zentrale studentische Angstphantasie die der Rache ist: Der Hochschullehrer werde sich eine Situation, in der das Studentlein unbotmäßig kritisch war, merken und in der Prüfung dann gräßlich zurückschlagen. Ihm, dem Studentlein also elend schwere Fragen stellen oder es gar durchfallen lassen.

Dies alles klingt nach heftiger Schelte für die Professorenschaft. Aber das wäre nur die halbe Wahrheit. Betrachten wir es aus deren Perspektive, so wird schnell klar, daß Professoren im Grunde kein Motiv dafür haben können, von sich aus die Lehre und den Kontakt mit den Studierenden grundlegend zu verbessern: Schließlich müßten sie dann ja mehr arbeiten. Warum sollten sie ein Interesse an zusätzlichen Anstrengungen haben? Da sie bislang nicht begriffen haben, was es dabei zu gewinnen gäbe, warum sollten sie es nun plötzlich begreifen?

Was Studentinnen und Studenten hingegen verändern können, sollten wir nicht übersehen. Studierende sind nun einmal, so sehr die Universität sie auch zu infantilisieren sucht, erwachsene Leute. Und gleichgültig, welche Position ich in einer sozialen Hierarchie auch einnehme: immer bleibt mir die Möglichkeit, mich zu ducken, zu schweigen, zu dulden (und damit an meinem eigenen Opferstatus mitzustricken); oder aber zu sondieren, abzulehnen, anderes zu verlangen. Kurzum, Studierende können sich ihre Rechte als Lernende bewußt machen, ohne dabei zu vergessen, daß sie erwachsen sind. Lernende haben das Recht und die Pflicht, Fragen zu stellen, ihre Probleme zu formulieren, aktiv um Anleitung zu bitten. Und auch Unduldsamkeit oder Einschüchterung lassen sich mit Fug und Recht zurückweisen.

Zu all dem gehört, so paradox dies nach den vorangehenden Ausführungen klingen mag, eigentlich nicht besonders viel. Es gehört allein dazu, sich die Realität zu vergegenwärtigen, statt in den (Angst-) Phantasien zu verharren. Tatsächlich können Professoren Studierenden nichts Schlimmeres antun als diese Art von Arroganz und Ignoranz, die sie ihnen heute oft genug entgegenbringen. Aber sie können eben keine Ohrfeigen verteilen. Und sie sind immer auch abwählbar. Kritisierbar und abwählbar. Studentinnen, die aus dem Angst- und Autoritätszirkel heraustreten und ein Nein formulieren, berichten immer wieder, daß der Erfolg frappierend sei.

Die Autorin ist Sozialwissenschaftlerin und arbeitet in freier Beratungspraxis in Berlin.