„Wenn etwas übrigbleibt, ist es Zeit“

Im Schatten der Arbeit(slosigkeit): In der kleinsten Kneipe des Prenzlauer Bergs wartet man auf den Wirt, spricht über den Psychiater, der immer ohne Bleibe ist, den innerlich emigrierten Dieter und lauscht andächtig der traurigen „Eberesche vom Ural“  ■ Von Uwe Rada

Nichts bleibt, wie es ist. Auf dem abgewetzten Holztisch thront ein Akkordeon. Weinrot, mit geflicktem Lederriemen und vergilbter, speckiger Tastatur. Der es hinstellte, blickte weder rechts noch links. Entblätterte nur den Notenständer. Ignorierte die freien Tische und hing seinen Mantel über einen der Stühle. „Nix für ungut“, fragt er den einzigen Gast am Tisch. „Sitzt du noch lange hier?“ Der nickt.

Das Gegenteil von klein ist winzig. „Winziges Wanderpuppentheater“ steht auf der Fensterscheibe des „Lampion“, doch dahinter verbirgt sich eine Kneipe, die wohl kleinste im menschenengen Prenzlauer Berg. Gerade vier Tische finden Platz in der geduckten Stube, vier Tische, siebzehn Stühle, einer andrer als der andre, vier schief gezimmerte Sitzbänke.

Das Gegenteil von winzig ist der Bärtige. Wie ein Riese wirkt er zwischen den samtenen Vorhangshälften an der Eingangstür. Nach ein paar Schritten ist er auf Normalmaß geschrumpft. Trägt Schiebermütze und graumelierten Mantel. Listige Augen in dunklen Räuberhöhlen. Der Bärtige macht den wenigen Gästen seine Aufwartung, klopft auf die Tische. Man blickt auf und grüßt zurück. Sein erstes Wort gilt der Kellnerin. Keine überflüssige Geste.

„Er macht Therapie“, flüstert die Kellnerin

„Im Sommer“, erzählt die Kellnerin, „war hier manchmal der Psychiater. Immer ohne Bleibe. Kaum ist er zu einer Frau gezogen, hat sie ihn rausgeschmissen. Bei andern hätte er das als maniforme Umtriebigkeit bezeichnet. Es heißt“, flüstert sie, „er beginnt eine Therapie“. Für die Kellnerin ist der Kneipenrhythmus eine Frage der Haltung. Ungebeugt und im Fünfzehnminutentakt schlendert sie mit einem roten Plastikkörbchen vom oberen Teil der Kneipe über die steile und noch leere Sitztreppe hinter die Theke. Im Plastikkörbchen befinden sich jeweils zehn Bierflaschen. Für den Kühlschrank genug. Auf einem schmucklos gerahmten Foto hinterm Tresen lacht ein zahnloser Alter. Ein Schauspieler, der hier mit gewisser Regelmäßigkeit einen über den Durst trinkt. Dabei pflegt er die andern Gäste mit einem Charme zu betören, den man in Kreuzberg gar nicht und bei der in Szenekneipen bekannten „Nachtigall von Ramersdorf“ nur noch selten findet. „Wo ist der Große“, fragt der Bärtige nach dem Wirt. Die Tresenfrau zuckt mit den Schultern. „Oben vielleicht.“

„Wo er aber seit dem Sommer abgeblieben ist“, beugt sich die Kellnerin über den Tresen, „das weiß man nicht. Vielleicht in Herzberge.“ „Vielleicht auf den Bahamas“, mischt sich der Bärtige ein. „Nee, nee“, meint die Tresenfrau, „der hatte doch nie Geld, ging doch alles drauf für Alimente. Der arme Kerl, so ohne Wohnung. Und jetzt die Therapie.“

„Wo ist der Wirt?“ fragt nun auch ein blonder Hüne mit übermüdetem Gesicht. Mit seiner Freundin sitzt er an einem der beiden wandseitigen Tische. Er bestellt ein neues Weizenbier. Seine Freundin ruft: „Ich auch.“ Der Bärtige bewegt den Kopf: „Olaf war gestern hier.“ „Olaf?“ wundert sich die Freundin. „Warum nicht“, brummt der Freund. „Was macht Olaf grade?“ fragt sie den Bärtigen, der wie immer mit dem Rücken zum Bierhahn an der Theke sitzt. „Was soll er schon machen. Immer unterwegs, ohne zur Ruhe zu kommen. Bald holt er sich ein Magengeschwür.“ Der Bärtige lacht. „Und was hat er dann davon? Ärger! Nichts als Ärger!“ Die Freundin nuschelt etwas von Schamgefühl.

Die Kneipe füllt sich langsam. Vorne, am Tisch zum Doppelkreuzfenster, trinken seit einiger Zeit die Leute vom Puppentheater. Eine Freundin der Kellnerin verschafft sich mit einer Packung Gauloises Blondes Gehör. „Die vom Theater“, sagt sie, „waren neulich sogar im Fernsehen. Aber denkste, die wußten wo es langgehn soll? Keine Spur!“ Sie zieht an ihrer Zigarette und bläst den Rauch zur Decke. „Aber woher soll man det auch wissen. Jetzt, wo alles beliebig geworden ist.“ Der Bärtige zitiert Tucholsky: „Früher war alles besser. Selbst die Zukunft“. – „Nee, nee, zum Lachen war det nich. Det war 'ne Niederlage, eene von der Sorte, die man nich' mal sein'm besten Freund einjestehen möchte.“

Das Akkordeon thront noch immer auf dem Tisch mit dem einzelnen Gast. „Was ich spiele?“ fragt der Musiker. „Chansons. Französische Chansons. Auch von Piaf.“ Er blickt auf und schaut zur Theke. „Aber nicht vor 21 Uhr.“ Nach einer Weile fügt er hinzu: „Leise Stücke. Hörst du? Leise!“. Auf einem der wackligen Stühle stehend, dreht er eine Glühbirne in die Fassung. „Aber nicht nur Piaf!“, sagt er. „Hörst du?!“ Dann steigt er hinab zum Tresen. Überlegt. Bestellt statt Rotwein Kaffee. Am Längstisch seufzt der Freund: „Ick gloob, ick bin besoffn!“ Seine Freundin winkt ab: „Ach quatsch nicht!“ Sie bestellt die nächste Runde. Dann küßt sie ihn. Plötzlich und zielbewußt. Hält seinen Kopf, dieses menschliche Pendel, mit beiden Händen fest, als würde sie sich gleich verlieren. Ohne sich aus dem Blick zu verlieren, stehen sie auf und schmeißen sich tanzend zwischen die Stühle. „Halleluja, Bruder im Besten“, schreit der Tänzer, „wir gehen, und ihr, Schwestern, seid gekommen, um endlich...“ Sie gehen. Im Beaujolais des Bärtigen schwimmt ein Korkenfilm.

Hinter der Theke sucht sich die Kellnerin durch geordnetes Chaos. Allerlei Nippes und ein paar Flaschen Schnaps. Dazwischen die Kreidetafel: „Kaffee, zwei Mark; Espresso, zweifuffzich; belegte Brote, eine Mark“. Der Spieler hat inzwischen den Riemen um die Schulter geworfen und zieht einige Akkorde lang. Der Bärtige tanzt. Dann taumelt er. Stürzt. Bier fließt in rauhen Mengen. Er entschuldigt sich. „Mein Standbein!“. Außer Atem sagt er zur Tresenfrau: „Eine Zeit ist das. Luftholen müßte man und hat doch Angst, daß sie einem im Halse steckenbleibt.“ Die Tresenfrau schaut unbeteiligt duch das Glasfaß mit den Soleiern. Noch hat sie keiner bestellt, die alten, hartgekochten Eier in der Essiglake. Alt, verschroben und schief sitzt einer mit Russenmütze am unteren Ende der Treppe und versperrt den Weg zum Klo. Draußen, neben der Treppe zur Eingangstür, wo im Sommer die Gartentische unter dem weinbewachsenen Baldachin stehen, warnen zwei meterhohe Fabelwesen aus grobem Holz die ungebetenen Gäste.

Dieter kommt, wenn das Warten ein Ende hat

Drinnen steht die Luft. Der Bärtige blickt wieder freundlich in die Runde. Alles wartet auf Piaf. Der Akkordeonspieler hat sein Weinglas beiseite geschoben und blickt wild entschlossen. Es ist lange nach 21 Uhr, die Kneipe voller Gäste und Lampenschirme, die von der Decke hängen wie Spiegelbilder der nicht mehr Bodenständigen. Dicht über den Tasten und Registern hängt der Musiker und zieht ein Moll, dem man sich nur schwer entziehen kann.

Auf der Treppe erzählt einer von Dieter, seinem Mitbewohner. Der sei nach der Wende kaum mehr in einer Kneipe gewesen, weil er den Schmerz fürchte, den der Austausch von inneren Emigrationen nach sich zöge. Dieter, der früher immer um die Ecke am Platz unter den Kastanien saß und abstritt, ein Eigenbrötler zu sein, wo er doch nur allein sein wollte mit dem Bild von sich und den andern. Dieter, den Mitbewohner, den er schließlich hierhergeschleppt habe, der tatsächlich aufgeblüht sei, wenn auch nur für kurze Zeit. Dann habe Dieter, hier in der Kneipe, Doro wiedererkannt. Mit der, hätte er ihm erzählt, sei er damals um die Häuser gezogen. Auch Doro hätte sich erinnert. Seither gehe Dieter zwar noch immer nicht gern in Kneipen, doch hierher würde er bestimmt wieder wollen, irgendwann, wenn es vorbei sei mit dem Schmerz und das Warten ein Ende hätte.

Der Wirt läßt sich sehen. Angetrunken wie immer und bekleidet mit einer ärmellosen, gegerbten Schafsfelljacke schiebt er sich grüßend zu einem Schwarzen, der mit seinem kreisrunden Hut und dem schwarzen Gewand aussieht wie ein Wanderprediger aus US-Filmen. Den schnappt sich der Wirt und schleift ihn zum Moll des Spielers tanzend durch den Raum. Beinahe wären auch sie gestolpert. Die Gemeinde hätte sie wortreich bedauert und mit Bier und Wein getröstet. Der Wirt lacht und klopft sich die Schultern grade.

„Wo warst du?“ fragt der Wanderprediger. „Wo ich war?“

„Etwa saufen?“ lacht der Wanderprediger.

„Ich hab' mich euch entzogen“, lacht der Wirt. „Keine Lust, verstehst du. Sich entziehen, verstehst du. Wenn hier schließlich was bleibt, dann ist es Zeit! Zeit im Überfluß, und keiner hat gefragt, ob man sie verschwendet oder nicht.“ – „Und wir können warten, was“?, grinst der Bärtige und knufft den Wirt in die Seite. Der schwarze Wanderprediger hat inzwischen seine Querflöte ausgepackt und kämpft sich zum Akkordeonspieler durch. Dann spielen sie. Irgendeine bekannte Melodie, eine traurige, schwebt im Raum, zu den Lampionschirmen hoch und dem Rauchgewitter. „Die Eberesche vom Ural“, atmet der Akkordeonspieler und streicht über die Tasten, als spielte er nur für sich und den Querflötenspieler und die Tabakswolken an der Decke zwischen den Lampionschirmen. Der Wirt ist längst wieder verschwunden. Außer dem Wanderprediger mit der Querflöte hat es keiner gemerkt.