„Wachstum allein ist keine Lösung“

■ Was tun gegen Massenarbeitslosigkeit? Ein Interview mit der Senatorin für Arbeit und Frauen, Christine Bergmann

taz: Frau Bergmann, von Ihnen wird gesagt, daß Sie das Recht auf Faulheit propagieren. Was ist unter Ihrem Vorschlag des Sabbat zu verstehen?

Christine Bergmann: Ich bekenne mich zu diesem Recht auf Faulheit, wenn neue Arbeitsplätze geschaffen werden. Sabbat bedeutet: Beschäftigte steigen alle zwei Jahre für drei Monate aus ihrem Job aus, um sich zu qualifizieren, der Familie zu widmen oder schlicht und einfach faul zu sein. Während dieser Zeit machen sie ihre Arbeitsplätze für Leute frei, die keine Arbeit haben. Damit können wir acht Arbeitsplätze auf neun Personen aufteilen. Das wäre der Einstieg in die Umverteilung der Arbeit.

Die wirtschaftliche Lage in Berlin ist katastrophal. Seit dem Fall der Mauer wurden im Osten 250.000 Arbeitsplätze vernichtet. Die Arbeitslosigkeit in der Stadt liegt bei 220.000. Reicht der Sabbat aus, die Arbeit neu zu verteilen?

Nein. Damit können wir die Massenarbeitslosigkeit nicht beseitigen. Wir brauchen ein ganzes Bündel von Maßnahmen. Dazu gehören Investitionen in beschäftigungsintensiven Bereichen wie dem Umweltschutz. Der Berliner Senat fördert kleine und mittlere Betriebe mit Lohnkostenzuschüssen. Da gibt es ein riesiges Potential für Arbeit, das man mit Mitteln finanzieren kann, die sonst für Arbeitslosengeld ausgegeben würden. Außerdem unterstützen wir die Existenzgründung von kleinen Unternehmen und die Arbeitsförderbetriebe.

Wie viele Leute bringen Sie durch Ihre Maßnahmen wieder in Lohn und Brot?

In den vergangenen zweieinhalb Jahren haben wir 1.000 Existenzgründungen von kleinen Unternehmen gefördert und durch günstige Betriebskredite Hunderte von Arbeitsplätzen am ersten Arbeitsmarkt geschaffen. Jetzt kommen noch einmal 5.000 Arbeitsplätze durch die Lohnkostenzuschüsse dazu. Außerdem hatten wir wohl über 100.000 Menschen in ABM-Maßnahmen, von denen rund die Hälfte auf dem ersten Arbeitsmarkt untergekommen sind. Die Gesamtzahl läßt sich aber schwer feststellen.

Auch die WirtschaftpolitikerInnen haben keine wirkungsvollen Rezepte. Die derzeitige Flaute sei keine Konjunkturkrise, sondern eine grundsätzliche Systemkrise der Arbeitsgesellschaft, meint der französische Gesellschafstheoretiker André Gorz.

Auch bei Wirtschaftswachstum wird die Arbeitslosigkeit in den nächsten Jahren weiter zunehmen. Das Ziel der Vollbeschäftigung ist mit industriellem Wachstum nicht mehr zu erreichen. Diesem Glauben habe ich abgeschworen, doch viele Leute halten noch daran fest. Wenn wir vom sinkenden Arbeitsvolumen ausgehen, bleibt uns kein anderer Weg, als das Schwergewicht auf Arbeitszeitverkürzungen zu legen.

Fortsetzung auf Seite 34

TeilzeitarbeiterInnen sollen finanziellen Ausgleich für Lohnausfall bekommen

Fortsetzung des Interviews von Seite 33

taz: Im Ostteils Berlins stehen fast 100.000 Leute auf der Straße. Was halten Sie vom großen Sprung – einer Arbeitszeitverkürzung um zehn Stunden pro Woche?

Christine Bergmann: Sie wissen, daß ich für solche Lösungen grundsätzlich offen bin. Kleine Schritte wie die Reduzierung von 40 Wochenstunden auf 38,5 bringen nicht viel.

Vier oder acht Stunden weniger Arbeit für alle wären besser. Aber wir haben ein Problem: Die meisten Leute im Osten bekommen weniger Geld für die gleiche Arbeit als ihre WestkollegInnen. Man kann nicht bei den Leuten anfangen, die weniger verdienen.

Bei acht Stunden würde die Arbeitszeit auf 32 Stunden pro Woche reduziert.

Darauf will ich mich nicht festlegen. Zu viele Fragen – wie Teillohnausgleich und Alterssicherung – sind noch offen. Auch vier Stunden wären schon ein Anfang. Man soll die Leute nicht mit so großen Zahlen verschrecken.

Die Produktivität der Wirtschaft wächst beständig, die Summe der gesellschaftlich notwendigen Arbeit nimmt dementsprechend ab. Müssen weitere Schritte der Arbeitszeitverkürzung folgen?

Und in zehn Jahren arbeiten wir überhaupt nicht mehr?

Ich sage: Wichtig ist der erste Schritt zur gerechten Umverteilung des vorhandenen Arbeitsvolumens. Wer jetzt so große Dimensionen diskutiert, läuft Gefahr, die Debatte totzuschlagen. Vielleicht führt eine breite gesellschaftliche Diskussion zu dem Ergebnis, daß vier Stunden nicht ausreichen, um den notwendigen Arbeitsplatz-Effekt zu erzielen.

Die 32-Stundenwoche ist im öffentlichen Dienst im Ostteil Berlins jetzt schon möglich – dank des neuen Tarifvertrages. Warum macht die Arbeitssenatorin keinen Druck?

Wir befinden uns gerade in sehr schwierigen Verhandlungen über die schnellere Angleichung der Ostlöhne an die Westlöhne. Auch hier ist der erste Schritt wichtig: Ohne gleiche Einkommen kann man über die kürzere Arbeitszeit nur für Ostberlin schlecht diskutieren. Die Frage der Lohnangleichung blockiert die Arbeitszeitdiskussion im Augenblick.

Weniger zu arbeiten kann empfindliche Lohneinbußen bedeuten. Gleichzeitig arbeiten immer mehr Beschäftigte auf Teilzeitbasis oder in schlecht entlohnten Arbeitsverhältnissen. Deshalb solle der Staat breiten Bevölkerungsschichten neben dem Arbeitslohn ein Zusatzeinkommen garantieren, einen „zweiten Scheck“ ausstellen, fordert André Gorz.

Ich weiß nicht, ob diese grundsätzliche Herangehensweise praktikabel ist. Ich befürworte einen anderen Weg: Wer Sabbatmonate einlegt oder andere Teilzeitlösungen in Anspruch nimmt, soll für den Lohnausfall vom Staat teilweise entschädigt werden – mit Geld, das sonst für die Finanzierung der Arbeitslosigkeit ausgegeben würde. Für die Bundesanstalt für Arbeit sind mit diesem „Teilzeitgeld“ keine Mehrausgaben verbunden, denn sie spart ja Arbeitslosengeld für die Leute, die neu eingestellt werden. In Dänemark wird das schon gemacht. Mir hat noch niemand erklären können, warum das nicht auch hier möglich sein soll.

Das ist der zweite Scheck vom Staat.

Natürlich muß man den unteren Einkommensgruppen garantieren, daß sie von ihren Einkommen auch leben können. Aber in der gegenwärtigen Diskussion ist dieser Punkt nicht gerade mehrheitsfähig.

In den USA und Großbritannien arbeiten jetzt schon vierzig Prozent aller Beschäftigten in schlecht abgesicherter Teilzeitarbeit und erhalten nur einen Teillohn. Angesichts dieser Zukunftsaussichten erscheint es auch hierzulande notwendig, breiten Bevölkerungsschichten eine staatliche Zusatzfinanzierung zu gewähren. Wo liegt Ihr Problem bei dem zweiten Scheck?

Ich habe Sorgen vor zuviel Deregulierung und will die amerikanischen Verhältnisse hier gar nicht haben. Wir haben ohnehin schon die Diskussion, daß die Unternehmen die Löhne senken wollen, weil die Arbeit angeblich zu teuer ist. Ich will dem nicht noch dadurch Vorschub leisten, daß der Staat regelmäßig einen Teil dazubezahlt. Man muß geringe Einkommen zwar sozial aufstocken, aber ich will nicht dazu beitragen, in großem Umfang Billigarbeitsplätze zu schaffen, an denen nur die Unternehmen verdienen. Ich gebe den Kampf nicht auf für abgesicherte, sozialversicherungspflichtige Arbeitsverhältnisse, von denen die ArbeitnehmerInnen leben können.

Interview: Hannes Koch