Auf die Füße fallen

Neue Dependenztheorie / Von der 3. Welt lernen heißt: Mehr Mut zur Selbsthilfe im neuen Überlebenskampf  ■ Von Jürgen Zimmer

Angenommen, die Festung Europa würde nicht nach und nach, sondern von heute auf morgen geschleift, Schutzzölle würden abgeschafft, Importbeschränkungen und Quotenregelungen außer Kraft gesetzt, Waren aus dem Süden frei zugelassen. Statt „Markt“ hinter dem Wall würde es den allen zugänglichen Markt des Aristoteles geben, den Markt der Transparenz und Vielfalt und der fairen Regeln – was dann? In Deutschland ginge es zu wie nach einem Atomblitz. Die Textilindustrie gäbe es nicht mehr, vom Bergbau und von der Stahlindustrie blieben keine Spuren übrig, auch die Auto- und die chemische Industrie wären wir los, und dort, wo heute subventionierte Landwirte den Boden düngen, würden sich Parklandschaften ausbreiten. Was wir noch auf dem Weltmarkt zu bieten hätten? Die Berliner Philharmoniker, Neuschwanstein und die Laborschule Bielefeld!?

Die Arbeit kommt abhanden, nicht, weil wir im Schlaraffenland leben, sondern weil anderswo mehr und billiger gearbeitet wird. Der Süden muckt auf und hält sich nicht länger an die Dependenztheorie. Konjunkturflaute mit ein paar Strukturproblemen und der Hoffnung auf baldige Besserung? Unsinn: Europa wird vom Sockel geholt, wird und muß sich den Bedingungen, unter denen die Mehrheit der Menschen dieser Erde leben, langsam anpassen. Festungswälle können dies verzögern, aber nicht verhindern. Andere in Südostasien haben sich angeschickt, die intelligentere Ökonomie zu betreiben. Nun bröckelt es in der Festung, die Sitten verfallen, wer an die Peripherie gedrückt wird, schlägt zu oder entwickelt Mythen. Der Feuerschein näher kommender Schlachten spiegelt sich auf den Dächern.

In der Innenwelt dieser Festung geht es drunter und drüber. Menschen fallen nicht auf die Füße, sondern in die Reste des sozialen Netzes. Nun zeigt sich, daß die wertvolle Idee des Sozialstaats zum Gutteil verkommen ist, weil vielen Menschen die Grundqualifikation des unternehmerischen Handelns über Jahrzehnte entzogen wurde. Die Deutschen der neuen Bundesländer wurden mit falschen Wechselkursen geblendet, mit Milliardenbeträgen gedopt und anschließend dem Schock ausgesetzt, daß Unternehmer von anderswo dort nicht investieren wollen und daß die Tschechen, Ungarn oder Polen schon jetzt wettbewerbsfähiger sind als sie. Im Westen verheddern sich Nieten in Nadelstreifen im bürokratischen Überbau ihrer Firmen. Noch wissen längst nicht alle, woher der Lärm vor den Wällen kommt und wie er zu deuten ist.

Die Deutschen seien zu wehleidig, meinte Hernando de Soto, Ökonom aus Peru, als er im Februar 1994 in Berlin über Ökonomie von unten diskutierte. Sie hätten die Fähigkeit, im informellen Sektor durch ökonomische Tätigkeiten zu überleben, gründlich verlernt und verhielten sich in der Krise hilflos wie Kleinkinder. Die Latinos und Asiaten seien risk takers. Die meisten von ihnen würden morgens aufwachen und noch nicht wissen, wie sie den Tag überlebten. Sie schafften es trotzdem. Sechzig Prozent Arbeitslose in Lateinamerika? Nicht doch: Sie alle seien Unternehmer, sonst würden sie verhungern. Die Rezession, so de Soto, sei eine gute Lehrmeisterin. Die Ökonomie und damit die Schule würde wieder mehr auf die Straße verlegt. Lernchancen dieser Art habe es in Deutschland zuletzt in den Nachkriegsjahren gegeben.

So gilt es, wieder mehr als zuvor unternehmerisch handeln zu lernen und auf die eigenen Füße zu fallen. Die Pädagogen sind angehalten, aus den Kaninchenlöchern herauszukommen, ihre antiökonomischen Affekte beiseite zu legen, entrepreneurship zum Thema zu machen und ihre Klientel in der Entwicklung unternehmerischer Ideen und Besessenheit zu fördern. Vier Millionen Arbeitslose bei uns: Statt darauf zu warten, daß irgendwer ihnen Arbeit verschafft, statt sie zu Untätigkeit zu verdammen oder ihnen mit Arbeitsbeschaffungsmaßnahmen Brücken zu bauen, die nur selten zum anderen Ufer führen, wäre es doch auch eine Möglichkeit, so, wie es der Professor Muhamurad Yunus in Bangladesch erfolgreich tut, das unternehmerische Potential der Menschen zu stärken, Investitionsmittel zu wirklich günstigen Bedingungen zu organisieren und vielen den Start in die Selbständigkeit zu erleichtern. Nicht die Höhe des Startkapitals ist entscheidend, sondern die Qualität der unternehmerischen Idee.

Beispiele? Da ist Manila auf den Philippinen: Dort kam vor Jahren Leonardo Sarao auf die Idee, die zurückgelassenen Jeeps abziehender Amerikaner quer durchzuschneiden, ein Zwischenstück einzusetzen und daraus den Jeepney zu entwickeln – heute das Verkehrsmittel der Stadt, ein Auto für Fahrgemeinschaften, dem man nur noch den Gestank nehmen müßte, um es zu perfektionieren. Oder: Im Rotlichtbezirk Ermita haben Straßenkinder und ihre Betreuer erfolgreich ein Restaurant der Mittelklasse betrieben – unter dem Motto: nicht mit den Armen konkurrieren, sondern die Reichen angreifen – und sind erst ins Schleudern geraten, als der Hausbesitzer, vom öffentlichen Zuspruch des Unternehmens irritiert, die Gewerbemiete in eine astronomische Höhe trieb. Sie geben aber nicht auf, sondern suchen nach einer anderen Unterkunft.

In Nigeria ermuntert der oberste Schulinspektor der Provinz Badagry, Yemi Oyeneye, seine schlecht bezahlten Lehrer und gar nicht bezahlten Schüler, nicht weiter die Schule zu schwänzen und ihren eigentlichen ökonomischen Tätigkeiten als Marktverkäufer oder Schmuggler nach Benin nachzugehen, sondern intelligente Ökonomie von den Schulen aus zu betreiben, also learning and earning zu verbinden und dadurch das Schwänzen überflüssig zu machen.

In der brasilianischen Stadt Salvador Bahia wird der Eisverkauf auf den Straßen auch von den Kindern der Favela Alagados betrieben. Die leben nicht nur davon, sondern sind ihre eigenen Schüler und Lehrer. Sie verfügen über eine ausgeklügelte Theorie, wie man die Erträge aus dem verkauften Eis so umverteilt, daß keiner beschummelt wird.

Nichts geht glatt. Die Reichen in den Entwicklungsländern suchen sich durch bürokratische Barrieren die kleinen Unternehmer des informellen Sektors vom Leibe zu halten. Aber die Kleinen sind wendig und: small is more efficient. Wir können von den kleinen Fischen drüben lernen. Sie sind gut trainiert, nicht wehleidig und können mit äußerster Knappheit wirtschaften.