piwik no script img

Aus der Traum?

Interview mit der US-Publizistin Barbara Ehrenreich über die Krise der amerikanischen Mittelklasse  ■ Von Andrea Böhm

Barbara Ehrenreich ist Publizistin und Autorin, u.a. von „Hearts of Men“ sowie „Fear of Falling“, eine Geschichte und Bestandsaufnahme der amerikanischen Mittelschicht, die unter dem Titel „Angst vor dem Absturz“ (1992) auf deutsch erschien.

taz: In der aktuellen Debatte um die ökonomische Befindlichkeit der US-Gesellschaft wird die amerikanische Mittelschicht immer häufiger als eine vom Aussterben bedrohte Spezies dargestellt. Spielt sich vor unseren Augen tatsächlich die Auflösung der middle class ab?

Barbara Ehrenreich: Ja. Zumindest läuft der Trend bislang in diese Richtung. Der Graben zwischen Arm und Reich wird nach wie vor größer. In den 50er Jahren war die Zugehörigkeit zur Mittelschicht vor allem über den Besitz eines Hauses definiert: Ein Häuschen, ein oder zwei Autos und die College-Ausbildung für die Kinder. Dieses Paket an Gütern und Dienstleistungen können sich heute Menschen in den mittleren Einkommen nicht mehr leisten.

Nun ist im November 1992 ein Präsident gewählt worden, der im Wahlkampf quasi als Retter der Mittelschicht aufgetreten ist. Auch sein Reformprogramm zielte in erster Linie auf diese Gruppe ab.

Ehrlich gesagt, mir war seine middle class-Rhetorik immer unheimlich, weil seine Wahlappelle an die Mittelschicht so offensichtlich den Ausschluß der sozial Schwachen und Armen bedeuteten. Man kann nicht andauernd Leute bedauern, weil sie Schwierigkeiten haben, die Hypothek auf ihr Eigenheim abzuzahlen, ohne irgendwann von den Menschen zu reden, die nicht einmal ein Dach über dem Kopf haben. Ich bin auch vom Clintonschen Vorschlag zur Gesundheitsreform krass enttäuscht, weil er in keiner Weise die Vormachtstellung der privaten Versicherungskonzerne anrührt, die das ganze System überhaupt erst auf den Hund gebracht haben. Hinzu kommt, daß er sich in seiner Politik der extrem konservativen Prämisse der Defizitreduzierung gebeugt hat. Das bedeutet nichts weiter als das uralte konservative Credo: Reduzierung öffentlicher Ausgaben mit Ausnahme des Rüstungsbudgets, Schrumpfung des öffentlichen Sektors. Die konservative Ideologie triumphiert, und gleichzeitig gibt es ein tiefes Gefühl der Machtlosigkeit auf seiten der Linken. Damit sind im Prinzip alle Reformdiskussionen erstickt. Das Schlimme ist, daß viele aus dem liberalen Lager in diesen konservativen Chor miteinstimmen.

Sehen Sie die Chance, daß diese Vormachtstellung konservativer Ideologie und Politik unter dieser Administration noch einmal durchbrochen wird?

Schwer zu sagen. Die Mittelschicht – und ich gebrauche diesen Begriff hier in einem sehr weiten Sinn – hat nicht das Gefühl, daß sie für ihre Steuergelder vom Staat sehr viel an Gegenleistung bekommt. Der Staat hilft ihnen zum Beispiel nicht, die Kinder auf die Universität zu schicken. Aus Sicht der Linken ist es also sehr schwer zu vermitteln, daß man mit der Hilfe des Staates auch sehr Nützliches bewerkstelligen kann. Diese Generation erinnert sich nicht mehr an die Zeit nach dem Zweiten Weltkrieg, als der Staat Millionen von Menschen mit College- Stipendien und Eigenheimsubventionen quasi in die Mittelschicht hievte.

In Ihrem Buch „Angst vor dem Absturz“ schreiben Sie zum Abschluß, die Mittelschicht könne zu einer politischen Reformkraft werden, wenn sie beginnt, sich über ihre Arbeit – als Profession, nicht als Job – zu identifizieren statt über ihr Konsumverhalten. Würden Sie dies heute noch so schreiben?

Ich bin nach wie vor überzeugt, daß der Bezugspunkt für eine mögliche politische Oppositionsrolle der Mittelschicht mit der historischen Bedeutung der Arbeit für diese Klasse zu tun haben wird. Die Mittelschicht ist mit der Ausbreitung des Handwerks und einer professionellen Ethik entstanden.

Ohne maßgebliche staatliche Eingriffe werden diese Arbeitsplätze aber nicht geschaffen, zumal nach dem Niedergang des Produktionssektors dringend neue Professionen im Dienstleistungsbereich entstehen müssen ...

Klar ist, daß solche Arbeitsplätze geschaffen werden müssen. Ich bin skeptisch, ob durch den staatlichen Sektor, denn im Fall der USA ist der immer noch auf militärische Produktion ausgerichtet. Da möchte ich keine Expansion sehen. Klar ist jedenfalls auch, daß enorme Finanzmittel in andere Bereiche geleitet werden müssen, um einen Sektor zu schaffen, der nicht profitorientiert ist.

Welche Folgen hat das Entstehen einer Niedriglohngesellschaft für die politische Kultur in den USA? Ein gesamtpolitischer Rechtsruck und die Herausbildung eines rechtsradikalen Spektrums, wie es im Zusammenhang mit hoher Arbeitslosigkeit und Krisenstimmung in Europa zu beobachten ist? Oder eine heterogene Auswahl an politischen Protestwählergruppen à la Ross Perot?

Das Perot-Phänomen repräsentiert eine wachsende Entfremdung von den etablierten politischen Parteien. Das wäre anders, gäbe es eine starke Gewerkschaft, die mit dem moralischen Impetus einer Bürgerrechtsbewegung durchs Land zieht. Ich sehe keine linke Bewegung, keine linke Stimme, die derzeit hörbar wäre. Also ist es für die Rechte in den USA einfach, den öffentlichen Diskurs zu bestimmen, Immigranten und Schwarze als Sündenböcke zu definieren und neue Feindbilder zu finden: derzeit der Kampf gegen die Kriminalität.

Was ist von den anderen sozialen Bewegungen zu erwarten?

Möglicherweise hat die amerikanische Frauenbewegung, die viel stärker als die europäische ist, das Potential, einen Gegentrend zu schaffen. Die Frauenbewegung wird zwar immer wieder dafür kritisiert, daß sie sich zu sehr auf die weiße Mittelschicht bezieht. Doch in den letzten Jahren hat sie sich verstärkt Themen wie Niedriglohnjobs oder Sozialhilfe angenommen. Aus dieser Richtung könnte ein neuer Gegentrend kommen.

taz lesen kann jede:r

Als Genossenschaft gehören wir unseren Leser:innen. Und unser Journalismus ist nicht nur 100 % konzernfrei, sondern auch kostenfrei zugänglich. Texte, die es nicht allen recht machen und Stimmen, die man woanders nicht hört – immer aus Überzeugung und hier auf taz.de ohne Paywall. Unsere Leser:innen müssen nichts bezahlen, wissen aber, dass guter, kritischer Journalismus nicht aus dem Nichts entsteht. Dafür sind wir sehr dankbar. Damit wir auch morgen noch unseren Journalismus machen können, brauchen wir mehr Unterstützung. Unser nächstes Ziel: 40.000 – und mit Ihrer Beteiligung können wir es schaffen. Setzen Sie ein Zeichen für die taz und für die Zukunft unseres Journalismus. Mit nur 5,- Euro sind Sie dabei! Jetzt unterstützen