Versager Politik!

Sozialstaat als Verfassungsauftrag / Umverteilung nach unten bringt sozialen Frieden und Wachstum  ■ Von Konrad Stopp

Die Wirtschaftskrise hat mehrere Ursachen. Eine ihrer wesentlichsten Wurzeln liegt im Schatten des öffentlichen Bewußtseins: die Demontage des Sozialstaats. Daß das Grundgesetz Parlament und Regierung verpflichtet, für einen Ausgleich sozialer Gegensätze Sorge zu tragen, scheinen der Staat und die ihn tragenden Kräfte verdrängt zu haben. Parlament und Regierung stellen das Prinzip des Sozialstaats auf den Kopf. Statt für einen Ausgleich sozialer Gegensätze zu sorgen, tun sie das Gegenteil. Die Einkommen werden nicht „von oben nach unten“, sondern vielmehr konsequent von „unten nach oben“ umverteilt.

Diese verfassungswidrige Politik ist neueren Datums. Bis Mitte/ Ende der 70er Jahre nahm der Staat seinen Verfassungsauftrag ernst. Er sorgte dafür, daß am Wohlstandszuwachs alle Gruppen des Volkes teilhatten. Die Arbeitslosenquote fiel von 10,4 Prozent (1950) auf 0,7 Prozent (1970) zurück. Es herrschte Vollbeschäftigung. Außerdem belegen die Statistiken des Statistischen Bundesamtes im Zeitvergleich bis 1982 schrumpfende Abstände zwischen den verfügbaren Haushaltseinkommen der Selbständigen und denen der übrigen Bevölkerungsgruppen, auch der Rentner und Empfänger von Sozialhilfe.

Dann kippte diese erfreuliche Entwicklung. 1991 war der Stand von 1972 wieder erreicht. Stehenden Fußes folgte die ökonomische Strafe: Arbeitslosigkeit und wachsende Armut. Mangel und Überfluß – wie paßt das in reichen Volkswirtschaften zusammen? Versagt hat die Politik, nicht die marktwirtschaftlich organisierte Wirtschaft! Der Scherbenhaufen ist maßgeblich Folge christlich-liberalen Verrats am Sozialstaatsprinzip. Wer heute Wachstum und damit neue Arbeitsplätze schaffen will, muß das Einkommen der armen und nicht das der ohnehin schon wohlhabenden Bevölkerungsgruppen erhöhen. Weil die einen über zu viel und die anderen über zu wenig Einkommen verfügen, kommt Wirtschaftsmengenwachstum im Inland zum Stillstand. Unternehmen investieren nicht, nicht weil es ihnen an Geld mangelt, sondern weil sie keine Absatzchancen für zusätzliche Produktion sehen. Die Mehrheit der privaten Haushalte ist gesättigt und bildet Geldvermögen insgesamt in Billionenhöhe, das keine Anlage als Produktivkapital findet, sondern zur Finanzierung nationaler und internationaler Staatsverschuldung herhalten muß. Andererseits kann eine wachsende Minderheit mangels Einkommen ihre Bedürfnisse auf den Märkten nicht anmelden.

Was ist zu tun? Täuschen wir uns nicht, die in diesen Tagen festzustellende konjunkturelle Besserung stützt sich im wesentlichen auf die zunehmende Nachfrage aus dem Ausland. Was aber not tut, ist eine steigende Inlandsnachfrage. Die Kohlsche Wendepolitik ist auf dem Holzweg, sie führte in die Krise. Die Wende zurück zum Sozialstaat führt aus dieser heraus! Die Wohlhabenden müssen zugunsten der Armen Opfer bringen. Nicht nur ethische Werte, auch ökonomische Realität verlangen nach einer konsequenten Umverteilungspolitik. Eine solche konzertierte Aktion wider die Armut könnte folgende kurzfristige Maßnahmen umfassen: Anhebung der Sozialhilfesätze um 30 bis 40 Prozent; Einführung einer Mindestrente in Höhe der angehobenen Sozialhilfesätze; Steuerbefreiung aller Jahreseinkünfte zusammen bis 30.000 Mark; eine Tarifpolitik, die vorrangig in niedere Lohn- und Gehaltsgruppen eingestufte Arbeitnehmer und Beamte bedient.

Über finanzielle Opfer der Wohlhabenden allein – progressiverer Einkommensteuertarif insbesondere für etwa 40.500 Steuerpflichtige mit Jahreseinkünften über 500.000 Mark; Erhöhung der Erbschafts-, Vermögens- und Grundsteuer für eigengenutzte Grundstücke und Wohneigentum – ist all das nicht zu finanzieren. Der Staat muß weitere Finanzierungsquellen erschließen: konsequenter Abbau von Subventionen; Beschränkung der Selbstbedienung der Parteien, der Minister und Staatssekretäre aus dem Steueraufkommen; Rationalisierung der bürokratisch arbeitenden öffentlichen Verwaltung; radikale Vereinfachung der Steuergesetzgebung; energische Bekämpfung der Steuerkriminalität und die Einführung einer 30-Prozent-Werbesteuer auf alle kommerzielle Werbung. Diese Quellen könnten in dreistelliger Milliardenhöhe sprudeln. Es muß nur gewollt sein. Ansätze einer solchen Politik sind bei den Sozialdemokraten und Bündnis 90/Die Grünen zu erkennen.

Ein Letztes: Der der SPD gemachte Vorwurf, sie machte mit ihrer Neigung, unbekümmert Einkommen über den Staat umzuverteilen, den Fortschritt kaputt, ist absurd. Noch jede Regierung verteilte Einkommen in beachtlichem Umfang um, allerdings ab 1982 entgegen dem Auftrag des Grundgesetzes von „unten nach oben“. Staatliche Umverteilung der Einkommen muß wieder eine von „oben nach unten“ werden. Indem der Sozialstaat für einen Abbau sozialer Gegensätze sorgt, wird er zum Wachstumsmotor.

„Die Bundesrepublik Deutschland ist ein

demokratischer und sozialer Rechtsstaat.“

(Artikel 20 Grundgesetz)