Bote des Untergangs

Einst Symptom der Krise, ist der Arbeitslose heute unverrückbare Gestalt der Gesellschaft selbst geworden  ■ Von Claus Koch

Der Tag der Arbeit als Feier der durch Arbeit und Arbeitsteilung vereinten Menschheit – seine Stunde hat geschlagen. Bald wird er zum Memento für den Zerfall einer Zivilisationsform geworden sein, die wir 250 Jahre lang mit dem Hoffnungswort „Gesellschaft“ bezeichneten. Arbeit ist nun auch Kennwort für Trennung, für Ausschließung.

Der Kampf um Arbeit, der immer unerbittlicher zum Überlebensangebot wird, zersetzt langsam und beharrlich nicht nur die alten westlichen Gesellschaften. Er zerstört auch von innen her wie von außen die Staaten und die politische Demokratie. Keine Gesellschaft aber jenseits der Arbeitsgesellschaft, und auch kein Staat, die noch immer vernünftigste und daher unentbehrliche Organisation der Gewaltbeherrschung.

Neben die Arbeitsgesellschaft ist in den zwei letzten Jahrzehnten unmerklich, aber bestimmt der Arbeitslose getreten. War er in diesem Jahrhundert nur ihr vorübergehender Schatten, ihr zeitweiliges Negativbild, ein Symptom der Krise und daher nicht von Dauer, so ist er nun zu einer unverrückbaren Gestalt geworden. Die Gestalt des Arbeitslosen fordert nicht mehr die Gesellschaft heraus, wie man einst mit wohlfahrtsstaatlichem Pathos sagte. Sie ist bereits deren Bestandteil geworden.

Das heißt, sie prägt „Gesellschaft“ aus einer Losung für Aufklärung und Fortschritt in einen Begriff der Auflösung um. Der Arbeitslose, bisher als Minderheit begriffen und daher am Rande der Gesellschaft, gerät nun, obwohl noch immer in der Minderheit, in ihre zerfallende Mitte. Er wird zum Beständigen, Unbewegbaren; die Arbeitenden, in fortwährende Mobilität gezwungen, werden zum Flüchtigen, Unbeständigen. Der Arbeitslose als nicht mehr abzuschüttelnder Begleiter wird zwar seit bald einem Jahrzehnt fatalistisch akzeptiert. Kein Widerspruch kommt heute, wenn die Arbeitslosigkeit als endemisch bezeichnet wird. Aber es ist doch noch kaum ins Bewußtsein gedrungen, was da vorgeht. Noch der Zerstörungsprozeß selbst wird ja mit einem produktivistischen Wort benannt: Als Sockel, der mit jeder Krisenrunde sich verfestige und gerade durch die Mittel der Krisenbewältigung größer werde. Nun erst erweist sich auch das ganze Scheitern des Sozialismus: In der Peripetie, da sich die große Niederlage des Kapitalismus als einer organisierenden Geschichtsmacht ankündigt, zeigen sich die westlichen Gesellschaften erst ganz vom kapitalistischen Geist durchdrungen. Marktrationalität und Marktmoral beherrschen nunmehr die Massen so sehr, daß der Arbeitslose als der Sendbote des Niedergangs nicht begriffen wird, als ephemer weggeschoben werden kann. – Summiert man all die Vorschläge, die seit zwei Jahrzehnten zur „Beseitigung“ der Arbeitslosigkeit aufgeboten worden sind, so erweist sich darin vor allem eines: das Scheitern der drei Utopien, mit denen sich die krankenden Industriegesellschaften aufrechterhielten, sich ein Zukunftsbild machten:

– der liberalen Utopie, die auf den Markt und die Fortschrittskraft der Arbeitsteilung setzt, die immer wieder relative Gleichheit herstellen und den Rückfall in den wölfischen Naturzustand verhindern könnten. Nicht nur reicht alles Wachstum, das den westlichen Gesellschaften noch möglich ist, nicht mehr aus, die Arbeitslosenheere zu vermindern und die Vermehrung schlechter Arbeit aufzuhalten. Der Wachstumszwang in der internationalen Konkurrenz stärkt auch gerade jene Techniken und Organisationsformen, die neue Arbeitslosigkeit und Dequalifizierung hervorrufen. – Auch kräftige weitere Senkungen der Arbeitskosten werden der Arbeitslosigkeit wenig antun, da der Igel der Zuwächse der Arbeitsproduktivität immer schon am anderen Furchenende steht. Schließlich sinken die Realeinkommen etwa der breiten amerikanischen Mittelklasse seit 15 Jahren mit schöner Beständigkeit, ohne daß dies den Arbeitsmarkt merklich „entlastet“ hätte. Und der Traum der Rettung in die Dienstleistungsgesellschaft ist auch ausgeträumt, da auf dem tertiären Sektor die reale Vermehrung von Arbeitsplätzen nur noch mit bad jobs bestritten werden kann. Der universal werdende und erst recht vermachtete Markt ist es nun, der die liberale Utopie im alten Westen zerstört.

– der sozialdemokratischen Utopie, die durch Umverteilung von Nichtarbeit und die Schaffung von Quasiarbeit die gesellschaftliche Integration bewahren und ein Minimum an bürgerlicher Gleichheit abstützen möchte. Doch dies bleibt eine Utopie, die sich von Surrogaten nähren muß. Mögen auch manche der sozialdemokratischen Therapien im Detail sinnvoll erscheinen: Grundeinkommen oder Basislöhne für alle, Teilzeitarbeit und Arbeitszeitverkürzungen und anderes mehr – sie führen doch nur zu Ersatz, indem sie pure Erwerbsarbeit als solche simulieren. Damit gehen sie weit hinter den zivilisatorischen Standard zurück, den der Wohlfahrtsstaat der drei Nachkriegsjahrzehnte gesetzt und, zumal in Westdeutschland, auch eingehalten hatte. Nämlich die im Prinzip arbeitslebenslängliche Berufsarbeit, in der sich die Individuen ständig mit dem Fortschritt weiterbewegen und damit ihre soziale Rolle erst ganz leben können. Wer nicht über seine ganze Beruflichkeit verfügt, kann auch die vielfältigen anderen sozialen Rollen in der demokratischen Arbeitsgesellschaft nicht ausfüllen.

Zudem fehlt der Staat, der eine Politik der Arbeitssurrogate ins Werk setzen könnte. Die stetig schwindenden Kräfte, die der verbleichende Wohlfahrtsstaat noch aufbieten kann, werden immer mehr im globalen Konkurrenzkampf verschlissen. Vom Zwang zur Deregulation des Wohlfahrtsstaates in der Marktgemeinschaft Europas ganz zu schweigen. Am Unvermögen und am Unwillen, dies zu begreifen, zeigt sich das unrühmliche Ende der europäischen Sozialdemokratien.

– der libertär-sozialistischen Utopie, die auf einen sprunghaften Konstitutionswandel des Individuums in einer postfordistisch arbeitenden Gesellschaft hofft. Es soll die Entlastungsgewinne an Arbeitszeit und -kraft zur Persönlichkeitserweiterung nutzen, gemäß der Marxschen Endzeiterwartung „Morgens jagen, mittags fischen, abends kritisieren“. Diese von André Gorz hochgehaltene Utopie ist ein Abklatsch der bürgerlich-idealistischen Vorstellung vom universalistischen, „allseits tätigen“ Rousseau-Menschen, sie hängt noch immer in der tayloristischen Welt. Sie ignoriert, daß Gesellschaft und politische Gesittung auf Arbeitsteilung und Spezialisierung gebaut sind.

Das werden ihr nicht zuletzt die Privilegierten im oberen Drittel der postfordistischen Arbeitsgesellschaft entgegenhalten, deren Arbeitsrolle an Vielseitigkeit und Beanspruchung der „gesamten“ Persönlichkeit weiterhin zu gewinnen verspricht. Anreicherung des arbeitenden Individuums und Ausbreitung der Arbeitslosigkeit stehen in direktem Verhältnis zueinander.

Schließlich mogelt sich die libertär-sozialistische Utopie nicht anders als ihre beiden Kolleginnen um die Frage nach dem Staat, nach den Institutionen, nach der Ordnung der Herrschaft herum. Wenn das Gewaltmonopol einige Jahrzehnte lang wohlfahrtsstaatlich überdeckt war und die Souveränität der Staaten sich verminderte, so ist die Frage nach der Herrschaft im demokratisch so dünn verleimten Staat noch lange nicht erledigt. Sie erhebt ja auch überall wieder drohend das Haupt.

Die unsichtbare Hand hat den Gesellschaftsvertrag zerrissen – aber sie hat sich dabei unheilbar gelähmt. Damit sind zugleich die beiden Großmetaphern, unter denen wir bisher „Gesellschaft“ denken konnten, ruiniert. Die neue europäische Geschichtsgestalt des Arbeitslosen scheint uns zu bedeuten, daß wir noch einmal von vorne anfangen müssen.