Mit dem VW-Modell im Verkehrsstau

Die Arbeitszeitverkürzung bei VW produziert in Wolfsburg erstmals richtiges Verkehrschaos  ■ Aus Wolfsburg Jürgen Voges

Besitzer von VW-Aktien können nicht mehr klagen, seit VW im letzten Dezember mit der IG Metall die radikale Arbeitszeitverkürzung auf 28,8 Stunden vereinbart hat. Produktivität und Ertragskraft des größten europäischen Autoherstellers sind seither enorm gestiegen. Bereits für 1994 verspricht VW-Chef Ferdinand Piäch eine ausgeglichene Bilanz, nachdem 1993 der Absatz von VW-Autos um 25 Prozent eingebrochen war. Der Einbruch war auch bei der Bilanz zu spüren. Im Jahr 1993 machte VW 1,94 Milliarden Mark Miese (auf einen Umsatz von 76,6 Mrd. DM).

In der Innenstadt von Wolfsburg, das ohne VW nicht existierte, gehen seit dem Tarifabschluß die Geschäfte wieder ihren gewohnten Gang. „Im Herbst hielten sich unsere Konsumenten deutlich zurück“, sagt der Sprecher der Industrie- und Handelskammer. Doch schon im Weihnachtsgeschäft ging es in der VW-Stadt wieder aufwärts. Inzwischen hat der Wolfsburger Handel nur noch bei Küchengeräten oder Stereoanlagen und bei Herrenoberbekleidung gewisse Umsatzrückgänge zu verzeichnen. Ansonsten spürt der Einzelhandel keinerlei Kaufzurückhaltung – trotz der mit der Arbeitszeitverkürzung einhergehenden Senkung der Löhne und Gehälter.

Das Wolfsburger Stammhaus von VW zählt jetzt noch 50.000 Beschäftigte, 5.000 weniger als zu Beginn des Krisenjahres 1993. Obwohl sie just im Sommer die Folgen des Tarifabschlusses auf ihren Konten deutlich spüren werden, ist ihnen, das bestätigen die Reisebüros, die Reiselust nicht abhanden gekommen.

Bisher nämlich wurden bei VW zum 1. Juli beinahe zwei zusätzliche Monatsgehälter gezahlt, waren Urlaubsgeld und Jahressonderzahlung fällig. Bis auf ein Resturlaubsgeld von gut einem Viertel des bisherigen werden diese Zahlungen diesmal entfallen. Schließlich war die Umwandlung von Einmalzahlungen in monatliches Einkommen der Hauptbestandteil des Tarifabschlusses über die Arbeitszeitverkürzung.

Betriebsrat Heinz-Georg Wenzel hat die Verhandlungen über die Umsetzung des Tarifabschlusses in detaillierte Arbeitszeitregelungen geführt. „Vier Wochen haben wir über den Tarifvertrag verhandelt, drei Monate dann über die Betriebsvereinbarung“, erzählt er. Die Arbeitszeitverkürzung gilt für alle – das hatte die IG Metall von vornherein zur Bedingung gemacht. 140 unterschiedliche Schichtpläne kamen schließlich nach den Verhandlungen heraus, denn auch für die Konzernverwaltung, die zentrale Forschung und Entwicklung mußten die Arbeitszeiten neu festgelegt werden.

Die ach so autogerechte VW- Stadt kennt seither einen allmorgendlichen Verkehrsstau. Die VW-Beschäftigten der Normalschicht, in der Gleitzeit gilt, haben sich noch nicht daran gewöhnt, daß sie nun erst eine halbe Stunde später, ab 7.30 Uhr, stempeln können. So treffen ihre Fahrzeugkolonnen mit denen der Produktionsarbeiter zusammen, deren Frühschicht um 7 Uhr statt um 5.30 Uhr beginnt. Aber: endlich nicht mehr „zu unchristlichen Zeiten aufstehen müssen“, wie Heinz-Georg Wenzel sagt. Ansonsten spricht man beim Betriebsrat von normalen Umstellungsschwierigkeiten, wie sie schon mit früheren Arbeitszeitverkürzungen einhergingen.

Da müssen Fahrgemeinschaften neu arrangiert werden, da fehlen plötzlich Parkplätze bei der Forschung und Entwicklung, weil dorthin 700 Mitarbeiter umgesetzt worden sind. Schließlich gab es in der Forschung weniger Rationalisierungsmöglichkeiten, wird dort die Arbeitszeitverkürzung größtenteils durch zusätzliches Personal ausgeglichen.

„Wir haben in den 28 Verhandlungsrunden immer wieder vor Ort in den einzelnen Unternehmensbereichen nachfragen müssen“, eklärt Betriebsrat Wenzel das lange Ringen mit dem Vorstand um die genauen Arbeitszeiten. Aber es gab auch Konflikte, „Reibereien“, wie er sagt. Der im vergangenen Dezember abgeschlossene Tarifvertrag sieht grundsätzlich die Viertagewoche vor, die 28,8 Stunden will er auf vier Arbeitstage von Montag bis Freitag verteilt sehen. Von dieser Regel, die Arbeitsverdichtung erschweren soll, darf nur durch Betriebsvereinbarungen abgewichen werden, die der Zustimmung der Tarifparteien bedürfen.

In Wolfsburg allerdings scheint nun die Ausnahme die Regel zu sein. In der Produktion etwa arbeiten alle weiterhin fünf Schichten pro Woche. Früh- wie Spätschicht dauern jetzt nur noch fünf Stunden und 46 Minuten. Dazwischen stehen die Bänder für eineinhalb Stunden still. Diese Zeit ist jetzt für Wartungsarbeiten vorgesehen, könnte aber später auch einmal zur Produktion zusätzlicher Fahrzeuge genutzt werden: Schließlich verkaufte VW bereits im ersten Quartal 1994 wieder 54 Prozent mehr Autos als im gleichen Zeitraum 1993. An fünf Tagen wird auch in der Lackiererei gearbeitet, durch vier der neuen kurzen Schichten läuft dieser Betriebsteil rund um die Uhr, Tag und Nacht. „Flexibler geht es wohl nicht mehr. Da müßte das Unternehmen schon mit dem lieben Gott verhandeln“, sagt Betriebsrat Wenzel.

Eine Arbeitsverdichtung sieht er durch die neuen Arbeitszeiten vor allem im Angestelltenbereich. In der Produktion sei man davor durch die genauen Zeitvorgaben weitgehend geschützt.

Flexibilisieren und Rationalisieren – das sind die keineswegs neuen Rezepte, mit deren Hilfe Volkswagen gestärkt aus der Krise hervorgehen will. Die Arbeitnehmervertretung trägt das Rationalisierungsprogramm, bei VW „KVP“, „kontinuierlicher Verbesserungsprozeß“ genannt, mit. In den Workshops dieses Programms, deren Zahl bereits in die Tausende geht, sind die VW-Beschäftigten angehalten, die eigene Produktivität zu steigern, letztlich eigene Arbeitszeit einzusparen. Nach Unternehmensangaben bewegen sich die Produktivitätsgewinne, die jeweils in den Workshops durch Veränderungen an der Arbeitsorganisation, den Maschinen oder am Produkt erzielt werden, zwischen 10 und 30 Prozent.

VW-Arbeitsdirektor Peter Hartz, auf den das Konzept der radikalen Arbeitszeitverkürzung zurückgeht, hat von vornherein einen klaren Zusammenhang zwischen dem Rationalisierungsprogramm und der Arbeitsplatzsicherheit gesehen, die der Tarifabschluß bei VW für zwei Jahre garantiert. „Das Rationalisierungsprogramm beruht auf den Ideen der daran beteiligten Mitarbeiter“, lautet das Credo des Arbeitsdirektors. Diese aber erwarteten Beschäftigungsperspektiven, nur dann würden sie mitrationalisieren.

So ist denn der Arbeitszeitabbau bei VW nach den Entlassungen des Jahres 1993, nach der Verkürzung der Wochenarbeitszeit noch längst nicht zu Ende. Dreimonatige Fortbildungsblöcke, reduzierte Arbeitszeiten auch für ältere Arbeitnehmer sollen in Zukunft die wegrationalisierte Arbeit ausgleichen. Ohne weitere Einkommensverluste für die Betroffenen wird auch dies kaum abgehen. Schon durch den letzten Tarifabschluß haben die VW-Beschäftigten insgesamt 16 Prozent ihres Reallohnes verloren.