Der große Kahlschlag

Noch nie wurden in Westdeutschland so schnell so viele Arbeitsplätze vernichtet wie im Jahr 1993  ■ Von Donata Riedel

Als das Jahr des großen Kahlschlags wird 1993 in die westdeutsche Nachkriegsgeschichte eingehen. 1,1 Millionen Arbeitsplätze haben die Unternehmer zwischen Mitte 1992 und Anfang 1994 gestrichen. Weitere 400.000 Menschen werden nach den bislang bekannten Plänen der Personalchefs bis zum Ende dieses Jahres arbeitslos werden – zusätzlich zu den sechs Millionen Arbeitswilligen in Ost und West, die bereits offen (vier Millionen) oder verdeckt (zwei Millionen in diversen Maßnahmen) vom Erwerbsleben ausgeschlossen sind.

„Auf dem Arbeitsmarkt herrscht Dr. Murphys Gesetz“, hat der Arbeitsmarktforscher Günther Schmid festgestellt: In den letzten zwei Jahren waren es immer die schlechtesten Prognosen, die eingetroffen sind.

Die ostdeutsche Arbeitslosenquote von registrierten 16,9 Prozent beunruhigt die Experten weit weniger als die westdeutsche Februar-Quote von 8,9 Prozent: Es war halt die Systemtransformation, der über ein Drittel der DDR- Arbeitsplätze zum Opfer fielen. Würde man sämtliche Reparaturmaßnahmen der Arbeitsämter hinzurechnen, käme man sogar auf eine Ostquote von 35 Prozent.

Im Westen aber hat es keine einschneidende Veränderung gegeben, mit der sich das Phänomen etikettieren und vergessen ließe, sondern lediglich eine Rezession. Und schon jetzt zeichnet sich ab, daß über die Hälfte der Arbeitslosen auch im gerade beginnenden nächsten Wirtschaftsaufschwung keinen neuen Job finden wird. Die sogenannte Sockelarbeitslosigkeit – jene Zahl erwerbsloser Männer und Frauen, die auch in Boom-Jahren keine bezahlte Beschäftigung finden – schätzt Horst Siebert, einer der Wirtschaftsweisen, auf über drei Millionen, davon 2,5 Millionen in Westdeutschland. 1991 zählten lediglich 1,7 Millionen Westdeutsche zu diesem Sockel.

Die Zahl der registrierten Arbeitslosen (West) ist von 150.000 Menschen 1970 (Quote 0,7 Prozent) auf heute 2,7 Millionen angestiegen. Geht den fleißigen Deutschen die Arbeit aus?

Dem steht die Tatsache entgegen, daß die Zahl der Arbeitsplätze in Westdeutschland seit 1970 bis auf die Rezessionsdellen 1975 und 1983 kontinuierlich gestiegen ist – pro Jahr um etwa 170.000. Allein in den Jahren 1988 bis 1992 kamen 1,7 Millionen neue Arbeitsplätze hinzu. Trotzdem wuchs gleichzeitig die Arbeitslosenzahl um 1,6 Millionen. Zum Teil erklärt sich das Paradox demographisch. Bei ungefähr gleich bleibender Bevölkerungsgröße ist die Zahl der Menschen im erwerbsfähigen Alter (zwischen 20 und 65) seit 1970 um sieben Millionen Menschen gestiegen.

Wie unrecht Helmut Kohl mit seinem Gerede vom kollektiven Freizeitpark hat, zeigt ebenfalls die Arbeitsamtsstatistik. Die heutige Generation in den besten Jahren ist arbeitswütiger denn je. Die Erwerbsquote (der Anteil der Beschäftigten und registrierten Arbeitslosen an der Wohnbevölkerung) stieg von 44,2 Prozent im Jahr 1970 auf 47,7 Prozent 1992. Zu dieser Entwicklung haben vor allem die Frauen beigetragen.

Anders als ihre Ostkolleginnen haben die Westfrauen in der derzeitigen Rezession nicht überdurchschnittlich verloren. Auch wenn sie mit den Männern noch lange nicht gleichgezogen haben, konnten sie doch ihre Erwerbsquote (bezogen auf alle Frauen zwischen 15 und 65 Jahre) auf 59,5 Prozent steigern. (Ostdeutschland: 85 Prozent). Die Arbeitslosenquoten von Frauen (Jahresquote 1993: 8,4 Prozent) und Männern (8,0 Prozent) unterscheiden sich im Westen nur noch geringfügig. Von dem 1993er Kahlschlag waren die Männer sogar stärker betroffen als die Frauen: Während sich die Arbeitslosigkeit für Frauen um 20 Prozent erhöhte, waren es bei den Männern 30 Prozent.

Im Osten hingegen sind zwei Drittel der Arbeitslosen weiblichen Geschlechts. Die Arbeitslosenquote der Frauen liegt dort mit 22 Prozent doppelt so hoch wie die der Männer mit 11 Prozent. Die Europäische Kommission rechnet dennoch fest damit, daß die gesamtdeutsche Frauenerwerbsquote letztlich näher an der früheren Ost- als an der heutigen Westquote liegen wird: Zu zwei Dritteln werde sie durch zunehmende Berufstätigkeit der Westfrauen und nur zu einem Drittel von einem Rückzug der Ostfrauen bestimmt. „Trotz der ungünstigen Aussichten kann sich die große Mehrheit der Frauen auch drei Jahre nach der deutschen Einigung einen Rückzug vom Arbeitsmarkt und ein Leben als Hausfrau nicht vorstellen“, stellen die Berliner Wissenschaftlerinnen Sigrid Quack und Friederike Maier fest.

Anders als in Frankreich (weitere EU-Länder) ist Jugendarbeitslosigkeit hierzulande bisher kein dramatisches Problem. Die unter 20jährigen sind deutlich seltener arbeitslos als der Bevölkerungsdurchschnitt. Bei den bis 25jährigen entspricht ihr Arbeitslosenanteil dem an der Bevölkerung (13 Prozent). Ganz schlechte Karten auf dem Arbeitsmarkt haben ältere Menschen ab 55 Jahren. Ihr Anteil an den Arbeitslosen (West) stieg in den vergangenen Jahren auf fast 20 Prozent – obwohl seit 1986 die über 58jährigen gar nicht mehr in der Arbeitslosenstatistik geführt werden.

Ohne Berufsausbildung sind 47,7 Prozent der westdeutschen Arbeitslosen. Ein Uni-Abschluß schützt sogar in Ostdeutschland vor dem Verlust bezahlter Arbeit. Vier Prozent der Arbeitslosen sind Akademiker, dabei stellen sie 11 Prozent der Beschäftigten.

Wer erst einmal den Job verloren hat, hat es heute schwerer als früher, einen neuen zu finden. Langzeitarbeitslos, also länger als ein Jahr, waren Ende der 80er Jahre 30 Prozent. 1970 hatten erst 9 Prozent zu dieser Kategorie gezählt. Überdurchschnittlich stark, um 36 Prozent, ist 1993 die Arbeitslosigkeit von Ausländern gestiegen. Entgegen anderslautender Gerüchte aus der rechten Ecke haben Ausländer noch nie den Deutschen Arbeit „weggenommen“. In den letzten 20 Jahren blieb ihr Anteil an den Beschäftigten gleich.