Garant für Anarchie

■ Leonardo Manzi die Identifikationsfigur der St. Pauli-Fans beim 1:1 in Bochum

Welch Glück, daß es Leonardo Manzi gibt. Ohne Leo, soviel steht fest, hätten die St. Paulianer in diesen sportlich konsolidierten Zeiten ein echtes Identifikations-Problem; ohne Leo, den liebenswert selbstbewußten Dilettanten, wären sie nüchtern betrachtet nichts weiter als die zweitbeste Zweitligamannschaft, handwerklich solide, gut eingespielt, mitunter ein in seinem Purismus mitreißendes Kollektiv.

Aber Leo, der tolpatschigste Brasilianer aller Bundesligazeiten, ist ein Garant für spontanen Aktionismus, für Chaos und Anarchie, ist der Stammhalter Klaus Ottens', sozusagen das allerletzte Relikt aus alten Zeiten, als nichts für die Dauerstimmung auf der Paadie so unwichtig war wie gepflegter Fußball. Mit diesem glücklichen Menschen in den eigenen Reihen muß kein St. Paulianer Sorge haben, der Verein könne in einer stromlinienförmigen Erfolgsgeschichte gesichtslos werden. Fürwahr: Leo hält die kleine Millerntorwelt in Ordnung.

Also liebt der aufrechte St. Paulianer nicht etwa diejenigen, die aus der Kloppertruppe eine mit einem Hauch von Spielkultur (wow!) gemacht haben - namentlich Carsten Pröpper und Marcus Marin - er liegt nicht dem coolen Keeper Andreas Reinke (Transferliste!) zu Füßen und selbst so etwas Rührendes wie fast zwei Jahrzehnte Vereinszugehörigkeit eines Jürgen Gronau reizt ihn nicht zu Huldigungen. Weil nur ein Kult ohne Ratio ein echter ist, liebt der St. Paulianer Leo Manzi.

Eine bezaubernde Ergänzung dieser Fan-Verehrung ist es, daß man dem strahlenden Leo-Lächeln nie sicher entnehmen kann, ob der Geliebte eine Ahnung davon hat, daß die Chöre zu seinen Ehren keinerlei Spiegelung spielerischer Qualitäten sind. Egal!

Am Freitag im und um das Bochumer Ruhrstadion herum hatte Super-Leo einen großen Abend. Nachdem die Seinen zunächst ohne ihn durch Marin in Führung gegangen waren, brachte Leos Einwechslung die nötige „Unordnung in der Mannschaft“ (Trainer Eichkorn), die baldigst zum Ausgleich des Tabellenführeres führte. Und weil Leo „noch einiges lernen“ muß (Vizepräsident Hinzpeter) bei seiner Umschulung vom Stürmer zum Manndecker, gab es hernach noch manche Nöte zu überstehen, bis das Remis gerettet war.

Wunderbarerweise gelingt es Lehrling Leo regelmäßig, Situationen, die er selbst unauffällig verkorkst hat, weil ihm sein Gegenspieler (und sei er auch noch so talentlos wie Bochums Hubner) abhanden gekommen ist, höchst spektakulär wieder zu retten, weil er wohl von überirdischen Kräften geleitet, am falschen Platz am Ende doch wieder richtig steht.

Möglicherweise gefällt es den Kollegen manchmal nicht, daß sie außer auf die gegnerische Offensive auch immer noch ein Auge auf das ungeklenke Teckling und höchst eigenwillige Stellungsspiel ihres Sonnyboys werfen müssen - aber was soll's? Der eine rackert bodenständig, der andere hat die göttliche Übersicht.

Alle, alle Spieler sanken beim Bochumer Schlußpfiff erschöpft zu Boden, allein Leo war frisch und munter, liebevoll behandelte er einen Gronauschen Wadenkrampf, bevor er mit einem Jungenslächeln zum Dahinschmelzen die begeisterte West-Tribüne abschritt, die sich dabei zu einem halbstündigen Apre-match-Gesangsmarathon einstimmte.

Als Super-Leo eine Stunde nach Spielschluß mit irgendeinem unbeachteten Mitspieler eine Ausrüstungskiste zum Mannschaftsbus trug, war der Anhang für das allerletzte Ständchen versammelt. Strahlemann Leo lachte wieder (oder immernoch) und gab glücklich Autogramme.

Unter den euphorisierten Bittstellern waren gestandene Mannsbilder, die noch leuchtendere Augen hatten als ihr Idol Super-Leo-Manzi und Geständnissse ablegten wie: „Mein erstes Autogramm seit ich 30 bin.“

Katrin Weber-Klüver