Keine Namen

Geburtshelfer der Erinnerung: Eine Jochen-Gerz- Retrospektive in Straßburg  ■ Von Christoph Danelzik

„La mémoire est comme le sang. C'est bon quand ça ne se voit pas.“ – Die Erinnerung ist wie das Blut. Es ist gut, solange sie nicht sichtbar ist. Mit schweren Vokabeln spricht Jochen Gerz in seiner Arbeit „Verhaltene Rede vor Tagesanfang“ (1989), und sie liegen wie Steine im Magen. Am schnellsten ist das „Blut“ verdaut. Keinen Halt findet hier die unweigerliche Konnotation mit Blubo-Ästhetik, Rassenlehre und Heldentum; einzig der psychomedizinische Aspekt haftet: Die Notwendigkeit der Substanz widerstreitet mit dem Ekel ihres Anblicks.

Mit dem Gedächtnis, dem Wahren und dem Sichtbaren bekommt es das Publikum in der Ancienne Douane in Straßburg allerdings unablässig zu tun. Erinnerung ist das Material seiner Arbeit, das Wahre ist der Stoff der Erinnerung, und das Sichtbare ist dialektisch zu verstehen. Gerz zufolge verdeckt es durch die Überfülle der Wahrnehmungsangebote eher die Wirklichkeit. Das „richtige“ Sichtbare dagegen ist nicht oder kaum stofflich zu fassen. Mit dem sinnlich Erfaßbaren verfährt Gerz konsequenterweise radikal. Sein neuestes Projekt nennt sich „Die Bremer Befragung“. Er nennt sie eine „,Skulptur‘ im öffentlichen Raum, [...] die vielleicht nicht entsteht und andererseits doch existent sein wird“.

In der Ancienne Douane gibt sich der Künstler etwas konzilianter, die dort ausgestellten Werke zumindest sind sicht- und lesbar. Doch auch in ihnen wird „Abwesenheit des Anwesenden“ (Andreas Voßwinckel) begreifbar, die Jochen Gerz ins Bewußtsein rücken will. Nicht nur das sinnlich Wahrnehmbare ist da, sondern auch Vergessenes und Verdrängtes. Gerz leistet der Erinnerung Geburtshilfe. In größeren Objekten geht es ihm um konkretes Gedenken, um Beiträge zum kollektiven Gedächtnis. In den letzten Jahren arbeitete er diese Auffassung vor allem in die bleierne Erinnerungsstele in Hamburg-Harburg ein sowie ins „unsichtbare Mahnmal“ von Saarbrücken. Die Präsenz resultiert dabei kaum aus dem Augenschein, denn in beiden Fällen gibt es wenig zu sehen. Ein Straßenschild vor dem Saarbrücker Schloß genügt: „Platz des unsichtbaren Mahnmals“ – wer es liest, tritt schon drauf.

Gerz' markanteste Arbeiten spielen also mit dem unsichtbaren Vorhandenen. In der Straßburger Ausstellung bleiben die politischen Arbeiten ausgespart, aber hier werden die Grundlagen seiner Perspektive klar. Keine der Arbeiten kommt ohne Text aus, auch wenn er nicht in jeder Arbeit sinnträchtig ist. In „Fujiyama“ hängen die Fotografien kahler Hügel und Halden nebeneinander, begleitet von kryptischen Sentenzen in verschiedenen Sprachen. Aus dem wolkigen Weiß des Fotopapiers tauchen die „Fujiyamas“ für einen nicht endenden Moment auf. Ihre anämische Schönheit fällt auf, zumal in den Sälen die botschaftenbeladenen Werke überwiegen. Zu den Klängen von Modest Mussorgskis „Bilder einer Ausstellung“ ist ein auf zehn an die Wand gelehnte Bildhalter verteilter Dekalog zu lesen. Jeder dieser Befehle verbietet menschliches Kommunizieren: „Sieh mich nicht an / Gib mir keine Namen / Komm mir nicht zu nahe / Erinnere dich nicht an mich /... Mach dir von mir kein Bild“.

Gerz' Arbeiten beschwören das Verschwinden der Bilder: An eine Wand gepinselt, seine Devise „Aber die schönsten Bilder sind unsichtbar“ (1975) – ebenso wie die nicht hörbare Musik, ließe sich ergänzen. Denn die Installation wird von einem leergebliebenen Laufwerk eines Kassettenrecorders begleitet. An die Stelle der Bilder tritt die Schrift, der alte Calvin winkt von seiner Wolke herab. Aber Gerz ist im Kontrast zum Erzreformator kein Bilderfeind. Eine frühe Fotosequenz liest sich noch wie ein Fotoroman: Ein Mann erhält nach seiner Urlaubsreise seine Urlaubsfotos zurück. Statt der von ihm geknipsten Andenkenbilder empfängt er rätselhafte Luftaufnahmen amerikanischer Gartenstädte – die Negativnummern belegen jedoch eindeutig, daß die Filme von ihm zum Entwickeln gegeben wurden. Jedem Foto ist ein Minikapitel zugeordnet, ohne daß ein Zusammenhang zwischen ihnen bestünde. Das Arrangement ummantelt den Science-fiction-Fotocomic poetisch und ein bißchen bedeutungsheischend.

Ambivalent bleibt eine Fotosequenz wie „Le Grand Amour (Fictions) //= 2“, denn sie zeigt Todeskrampf und Orgasmus gleichermaßen. Grobes Fotokorn verschleiert die Bilder. Die hinzugefügten Monologe erzählen ebenfalls von Liebe und Sterben – zusammengeführt in der Erwähnung Jack the Rippers.

Als gewiefter Semiotiker dekonstruiert Gerz Textsorten und Kontexte. Ob seine Botschaften gelesen sein wollen oder ob ihr Anblick zum Verständnis des jeweiligen Werks ausreicht, ist nicht von vornherein sicher.

Den Urahn hieroglpyhischer Schriftkunst, Leonardo da Vinci, zitiert Gerz in seinen in Sepia gehaltenen Skizzen zum „Depot“, der zentralen Arbeit der Straßburger Ausstellung. Die Zeichnungen sind kommentiert in elegant-unleserlicher Spiegelschrift.

Ähnlich den „Tagebüchern“ Hanne Darbovens dient hier die Schrift – ohne kalligraphische Ambition – als Symbol für Geschriebenes; sie bildet keinen Text. Zum Depot gehören monumentale Holzstapel. Angesichts der ansonsten äußerst zurückhaltenden Präsenz der Objekte fällt ihre Wucht auf. Gerz fügt aus Bohlen die ursprünglichen Baumstämme wieder zusammen, die Bretter liegen, durch Querhölzer voneinander getrennt, übereinander. Die Gebilde erinnern an Schiffe, Särge und Bäume. In ihnen sind Gedächtnisspuren deponiert, das Kunstwerk ist Trägermaterial gedanklicher Prozesse.

Die Unausweichlichkeit, mit der BetrachterInnen Kunstwerke durch ihre individuelle Brille sehen, wird hier zum Programm und Bestandteil des Objekts. Seine ästhetische Relativitätstheorie formuliert der Meister selbst: „In einer Ausstellung besucht der Betrachter sich selbst. Das ist die Arbeit, ein Dispositiv. Das hat etwas mit Abhängigkeit zu tun. Die Arbeit hängt von etwas ab. Ein Bild ohne Betrachter ist nicht da.“

Es ist klar, daß Gerz keine ästhetischen Empfindungen und Seelenbewegungen auslösen will. Mit den Bildertexten bzw. Textbildern bietet Gerz dem Publikum aber die Möglichkeit der erweiterten Erfassung seiner mentalen Umwelt.

Ausstellung in Straßburg: Ancienne Douane, bis 8. Mai 1994. Katalog mit deutschem Text: 290 FF