Kunst, Schamhaar, Jugend etc.
: Schau da nicht hin

■ Frankreichs Sittenwächter machen von neuen Zensurmöglichkeiten Gebrauch

Gustave Courbets Gemälde „Der Ursprung der Welt“, vor 128 Jahren entstanden, steht wieder einmal im Zentrum einer Affaire. Sittenstrenge Franzosen fühlten sich durch die nicht einmal postkartengroße Reproduktion des Bildes auf einem Buchtitel so vor den Kopf gestoßen, daß sie Anzeige erstatteten. Die Polizei griff ein und „säuberte“ die Schaufenster mehrerer Buchläden.

„Adorations perpétuelles“ („Fortwährende Verehrungen“) des Schriftstellers Jacques Henric war kaum erschienen, als der Roman den ersten Polizeieinsatz auslöste. Die Beamten in Zivil kamen in den Buchladen von Jean Rome in der südfranzösischen Stadt Clermont-Ferrand und verlangten, daß er das Werk aus seinem Schaufenster entferne. Bürger der Stadt hatten Strafantrag gestellt, weil das Titelbild jugendgefährdend sei. Über den Inhalt des erotischen Romans, in dessen Mittelpunkt der Maler Courbet und der Sozialreformer Charles Fourier stehen, beklagte sich niemand. Wenige Tage später, am 16. März, wiederholte sich das Spektakel in einem Buchladen im ostfranzösischen Besançon, wo Courbet Mitte letzten Jahrhunderts seine Jugend verbrachte.

Die Klageführer berufen sich auf das am 1. März in Kraft getretene neue Strafgesetzbuch, das den 1810 verfaßten „Code Napoléon“ ablöst. 20 Jahre lang haben sich linke und rechte Pariser Regierungen an dieser Reform abgearbeitet, die ursprünglich einmal als „humanistische“ Anpassung an die neue Gesellschaft geplant war. Herausgekommen ist ein bislang vierbändiges Werk (der fünfte Teil ist in Arbeit), das Straftatbestände wie Bettelei, Vagabundieren und Ehebruch (in Kriegszeiten) abgeschafft und zahlreiche neue eingeführt hat. Zu letzteren gehören Graffitimalereien, das Einpflanzen von Viren in Computersysteme und sexuelle Belästigung. In Artikel „L 227-24“ sieht das neue Gesetz drei Jahre Gefängnis und 500.000 Francs (ca. 150.000 DM) Geldbuße für eine publizistische Tätigkeit vor. Das Delikt: Die „Herstellung, der Transport und die Verbreitung von Nachrichten, die entweder gewalttätigen oder pornographischen Charakter haben oder die menschliche Würde beeinträchtigen und von Minderjährigen wahrgenommen werden können“.

Die Formulierung des Zensurartikels schließt alle Medien – vom kostenlosen Kleinanzeigenblatt über Tageszeitungen und Buchverlage bis hin zum ans Telefon angeschlossenen „Minitel“ – ein. Artikel „L 227-24“ tritt an die Stelle des „Verstoßes gegen die guten Sitten“ im Code Napoléon. Im Unterschied zu dem alten Gesetz, das nur dem Staatsanwalt ein Einschreiten erlaubte, darf nun auch jeder Bürger Klage führen. Zweimal geschah das bereits. Beim ersten Mal versuchte die französische Regierung den Radiosender „Lovin Fun“ zu verbieten. Das tägliche Telefonstudio, bei dem vor allem Jugendliche über Sex reden, verstieße gegen das Pornographie- und Gewaltverbot, argumentierte der zuständige Minister. Erst tagelange Protestdemonstrationen und eine Solidarisierungswelle im ganzen Land brachten seinen Plan im März zu Fall.

Von dem polizeilichen Vorgehen gegen Henrics Buch hingegen erfuhr die französische Öffentlichkeit kaum etwas. Kulturpolitiker von Regierung und Opposition hüllen sich ebenso in Schweigen, wie die Pariser Intelligenzija. Die meisten Buchhändler hatten schon vor den Polizeieinsätzen Gehorsam geübt: Sie legten den Roman mit dem „gewagten“ Titel erst gar nicht aus.

Das französische Parlament hat nie über den Zensurartikel diskutiert. Er wurde erst nachträglich vom zuständigen Ausschuß in das Strafgesetzbuch eingefügt und geht auf einen regelrechten Kuhhandel zurück: Konservative Politiker hatten sich bereit erklärt, keine neue Abtreibungsdiskussion anzuzetteln, wenn das Pornographie- und Gewaltverbot Gesetz würde. Sie sprachen stellvertretend für die in Frankreich stärker werdenden Lebensschützer, Familienverbände und integrationistischen Kirchenkreise.

„Mit dem Artikel können die Tugend-Ligen unsere Museen und Bibliotheken ausräumen, sie können Genet verbieten lassen und de Sade“, sagt Romanautor Jacques Henric. Am liebsten wäre es ihm, wenn eine der Klagen aufrechterhalten würde, damit es zu einem Prozeß kommt. „Vielleicht“, so seine Hoffnung, „wird dann klar, wie paradox das Ganze ist.“

Courbet, der Maler und Kommunarde, hat schon zu Lebzeiten den künstlerischen und politischen Skandal gesucht. Seinen im Original 46 mal 55 Zentimeter großen „Ursprung der Welt“ malte er 1866 für den Kunstsammler und Botschafter des osmanischen Reiches, Khalil Bey. Der war auch der erste, der die gespreizten Frauenbeine schamhaft hinter einer Landschaftsmalerei versteckte. Der spätere Besitzer, der Pariser Psychoanalytiker Jacques Lacan, tat es ihm gleich. Nur ganz selten war das Bild öffentlich ausgestellt. Heute befindet es sich – unzugänglich – in einem französischen Privathaushalt. Dorothea Hahn

Jacques Henric: „Adorations perpétuelles. Fictions & Cie“. Editions Seuil, Paris 1994