■ Nebensachen aus Washington
: Über die Toten nur Gutes

Meine Freundin Clarice hegt eigentlich eine gewisse Faszination für das Morbide, also auch Begräbnisse. Es war folglich absehbar, daß ich sie letzten Mittwoch am frühen Abend vor dem Fernseher antraf. Live-Übertragung der Trauerfeier für Richard Nixon. Wo man auch hinschaltete, CNN, C-Span, PBS oder ABC, gab es betretene Gesichter und Blumengebinde zu sehen, Salbungsvolles zu hören. Unter den Trauergästen fünf Präsidenten, zahlreiche Kongreßmitglieder, einige alternde Hollywood- Stars und mittenmang, wie Fische im Wasser, der eine oder andere „Watergate“-Mitspieler, der seinem Ex-Chef die letzte Ehre erweisen wollte.

Und also summten und säuselten sie am Sarg von „Tricky Dick“, wie schwierig die Zeiten und wie kompliziert der Verstorbene doch waren. Unterm Strich wird er als ganz Großer in die Geschichte eingehen, sprach der Prediger, kein geringerer als Billy Graham – und die Trauergemeinde nickte.

„Ist ja nicht mehr auszuhalten, dieses Schwamm-Drüber-Gedusel“, schnaubte Clarice und zappte kurzfristig zum Wetterkanal, wo sich gerade ein Tiefausläufer über den mittleren Westen erstreckte. „De Mortuis nihil nisi bene – über Tote nur Gutes“, versuchte ich zu beschwichtigen, worauf sie zurückschaltete. Just in dem Moment stapfte Gordon Liddy ins Bild, Ex-Mitarbeiter im Weißen Haus, Mitorganisator des „Watergate“-Einbruchs ins Hauptquartier der Demokraten. Das Wort „Watergate“ tauchte übrigens in den Trauerreden ebensowenig auf wie „Kambodscha“ oder „Pentagon Papers“. Auch nicht bei Bill Clinton, der sich förmlich überschlug, „Tricky Dick“ einen Platz in der präsidialen Ahnengalerie zu verschaffen. „Richard Nixon wurde in einem Haus geboren, das sein Vater mit eigenen Händen erbaut hatte...“, sprach er – und Clarice schaltete trotz meines Protestes wieder zum Wetter. Ich fand diesen Satz fast so schön wie das Zitat aus dem Aufsatz eines Oberschülers über Abraham Lincoln: „Abraham Lincoln wurde in einem Haus geboren, das er mit seinen eigenen Händen erbaut hatte.“ Dies zu dementieren traut sich im nachhinein keiner mehr.

Vom autobiographischen Standpunkt betrachtet, könnte es uns ja egal sein, was man in den USA heute über Nixon denkt. Ich war dreizehn, Clarice war vierzehn Jahre alt, als der Mann seinen Rücktritt erklärte. Am lebhaftesten ist ihr die Reaktion ihrer Eltern im Gedächtnis, die aussahen „wie von einer Gallenkolik befreit“.

Ein paar Jahre später arbeitete Hollywood jenen Skandal auf, der Politik in den Augen der Öffentlichkeit erst so richtig schmutzig und den Journalismus so richtig strahlend erscheinen ließ. Präsident = bad guy – Journalisten = good guys.

Andererseits sind wir, die das Schicksal altersmäßig zwischen die 68er und die Generation X gequetscht hat, doch beunruhigt: Wie kommt ein Vietnamkriegsgegner namens Bill Clinton dazu, einen Richard Nixon in den Schmusegriff zu nehmen, der nicht nur den Krieg in Vietnam verlängerte, sondern auch Kambodscha überfiel, die Vertuschung des „Watergate-Skandals“ anordnete und über seine eigene Rolle log, daß sich die Balken bogen. Nun beansprucht Bill Clinton bekanntermaßen das Erbgut von vielen Präsidenten – aber Nixon? Der einzige US-Präsident, der zurücktreten mußte, weil er sonst seines Amtes enthoben worden wäre?

„Chronische Harmoniesucht“, diagnostiziert Clarice. „Möchte auch von Republikanern geliebt werden.“ „Taktisches Kalkül“, entgegne ich. „Wenn das Fegefeuer für Watergate so schnell erlischt, dann wird für Whitewater nicht mal ein Streichholz angezündet.“ De Vivis nihil nisi bene. Über die Lebenden nur Gutes. Andrea Böhm