: Das Problem: Es gibt zuviel Medizin
■ Grüner gesundheitspolitischer Ratschlag diskutiert Alternativen zur Gesundheitsreform
Berlin (taz) – Etwas dürftig ist das Kapitel Gesundheitspolitik im Wahlprogramm der Bündnisgrünen schon ausgefallen. Das kritisierten auch etliche der etwa 80 TeilnehmerInnen des gesundheitspolitischen Ratschlags, den die Partei am vergangenen Freitag im Berliner Reichstag einberufen hatte. Grüne GesundheitspolitikerInnen, Basis und ExpertInnen nutzten die eintägige Veranstaltung, um die bislang bruchstückhaften Alternativkonzepte zu Seehofers dritter Stufe der Gesundheitsreform zu diskutieren.
Schon die Problemanalyse der Regierung stieß auf Kritik: Die vielbeschworene „Kostenexplosion“ im Gesundheitswesen gebe es nicht. Dies sei eine „Propagandalüge“, sagte Ellis Huber, Chef der Berliner Ärztekammer. Sie diene vor allem dazu, Akzeptanz für Einschnitte bei den Leistungen der gesetzlichen Krankenkassen zu schaffen. Zwischen 1980 und 1990 sei der Anteil der Gesundheitsausgaben am Bruttosozialprodukt konstant geblieben, führte Hagen Kühn vom Wissenschaftszentrum Berlin aus. Für die gestiegenen Krankenkassenbeiträge sei die sinkende Lohnquote am Bruttosozialprodukt verantwortlich. Auf Ablehnung stieß auch die erklärte Absicht der Bundesregierung, mit der dritten Stufe der Gesundheitsreform eine Zweiklassenmedizin einzuführen: Bei einer auf die Grundversorgung reduzierten Leistung der Kassen sollen Wahlleistungen künftig privat abgedeckt werden. Mehr Marktwirtschaft soll die angebliche Kostenexplosion eindämmen.
Was dies für PatientInnen bedeutet, hat Hagen Kühn am Beispiel der USA untersucht. Am meisten können Ärzte dort an gut versicherten PatientInnen verdienen. Alte und chronisch Kranke aus den unteren sozialen Schichten sind dagegen keine gewinnbringenden PatientInnen. Sie haben in den USA schon seit Jahren Schwierigkeiten, überhaupt einen Arzttermin zu bekommen.
Als Alternative zur Aufteilung in Grund- und Wahlleistung schlug Ellis Huber vor, daß die Ärzte eigenverantwortlich definieren sollten, welche Behandlung „notwendig, zweckmäßig und ausreichend“ ist. Das Problem sei vielfach nicht zuwenig, sondern „zuviel Medizin“. Kritiker Hubers befürchteten, daß dies im Ergebnis womöglich ebenfalls auf verringerte Leistungen der Kassen hinausliefe.
Dreh- und Angelpunkt einer Reform des Gesundheitswesens ist für die Bündnisgrünen eine veränderte Bezahlung der Ärzte. Huber schlägt vor, daß jeder Arzt für jeden betreuten Patienten eine Pauschale erhält, die mit einem zeitbezogenen Honorar verknüpft wird. Dieses Modell der leistungsgerechten Entlohnung habe den Vorteil, daß beide beteiligten Seiten „nicht manipulierbar“ seien.
Die Bündnisgrünen schlagen außerdem vor, sogenannte Primärärzte einzuführen. Dieses Modell habe sich in den Niederlanden bereits bewährt. Im Gegensatz zum Hausarzt betreut der Primärarzt die Gesunden und beugt Krankheiten vor. Er könnte auch als „Türsteher“ fungieren, indem nur er Patienten an Fachärzte überweisen darf. Dies würde die Rolle der Fachärzte schwächen und damit zu Einsparungen führen. Denn Fachärzte, die bei ihren Patienten Hausarztfunktion übernehmen, können dafür den zwei- bis dreifachen Gebührensatz kassieren.
Daß das gängige Verständnis von Gesundheitspolitik zu eng gefaßt ist, machte der Berliner Bündnisgrüne Johannes Spatz deutlich. Eine ökologische Gesundheitspolitik müsse auch Einfluß auf die Verkehrs- und Stadtplanung nehmen, da zahlreiche Gesundheitsprobleme aus der gestiegenen Umweltbelastung herrührten. Sonst bleibt es bei einer Gesundheitspolitik, die nicht mehr ist als ein Reparaturbetrieb. Dorothee Winden
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