Ach, hätt' ich bloß...

■ Revisionismus als Ausweg: Emmanuel Carrère schreibt über „Uchronie“, die Philosophie der versäumten Chancen

Schön wäre es gewesen und gut für den Fußball, wenn Erwin Kremers im Frühjahr 1974 nicht den Schiedsrichter als „blödes Arschloch“ beschimpft hätte oder der Schiedsrichter die Beleidigung nicht wahrgenommen hätte oder der Bundestrainer die Untat seines Stammlinksaußens (des besten, den wir je hatten!) nicht gestört hätte. So allerdings mußte der dribbelstarke Stürmerstar daheim bleiben. Das Niveau der Bundesliga sank, Schalke wurde nicht Meister, und ich gab meine Fußballkarriere auf.

Auf solche Traumata ist man die Hälfte des Lebens fixiert. Viel mehr jedenfalls als die forsch in die Zukunft gerichtete Frage, was man machen könnte – mit diesem Abend zum Beispiel, der so träge vor sich hinstiert, mit dem eigenen Leben oder der Einrichtung der Welt – beschäftigt einen die Frage, was unweigerlich an Schönem geschehen wäre, wenn nicht dies oder jenes dazwischengekommen wäre. Wenn man sich damals getraut hätte, die hübsche Mitschülerin zu küssen, wenn man früher den Ball abgegeben hätte...

Anders als die Utopie kämpft die revisionistische „Uchronie“, die vernachlässigte Wissenschaft, davon, was hätte sein können, einen prinzipiell aussichtslosen Kampf gegen die Herrschaft der Zeit. Diesem durch und durch sinnlosen Kampf hat der französische Schiftsteller Emmanuel Carrère seine „Kleine Geschichte der Uchronie“ gewidmet. Auf 140 unterhaltsamen Seiten beschäftigt er sich mit oft bewunderungswürdig durchgedrehten Autoren, die verzweifelt gegen geschichtsmächtige Ereignisse anschreiben: gegen den Kreuzestod Jesu (ohne Kreuz kein Christentum), gegen Napoleons Niederlage in Waterloo usw. „Das ist inakzeptabel – denkt zumindest der Uchronist –, und wir haben noch immer unter den Konsequenzen dieses Unglücks zu leiden. Dieser Schnitzer der Geschichte muß bereinigt werden. Was war, muß annulliert und ersetzt werden durch das, was hätte sein sollen oder was hätte sein können.“

Carrère beschränkt sich in seiner Pionierarbeit auf Uchronien im französischen und angelsächsischen Bereich, die in den letzten 200 Jahren meist nicht allzu viel Beachtung fanden. „Ein fatales Gesetz der Menschheit bewirkt, daß nichts sein Ziel erreicht. Alles bleibt unvollständig und unvollendet“, schreibt Louis Napoléon Geoffroy Chateau in der Einleitung der ersten bedeutenden Uchronie, der 1836 anonym erschienenen großen Geschichtsrevision „Napoleon oder Die Eroberung der Welt“. Hier scheitert Napoleon nicht vor dem brennenden Moskau, sondern zieht weiter nach Petersburg, nimmt den Zaren Alexander gefangen und erobert mit der Zeit die gesamte Welt. Kulturgeschichtlich wird die Revision durch nie geschriebene Werke – Madame de Staäl schreibt nicht mehr über Deutschland, sondern über England – und nie gemachte Erfindungen – die Sprache der Zahlen sowie durch allerlei Totalitarismen (weltweit eine [die katholische] Religion und eine [die französische] Sprache) flankiert. „Der Rest der Schar der freien Menschen“ bringt sich um anstatt zu rebellieren. Gelangweilt stirbt Napoleon als universaler Monarch der Welt.

Ein interessanter Bestandteil der meisten Uchronien ist, daß in ihnen regelmäßig die „wirkliche“ Geschichte als Lüge zitiert wird. Die einfache Vertauschung der wirklichen mit der imaginären Geschichte, in der Jesus nicht gekreuzigt wurde, die Alliierten den Zweiten Weltkrieg verloren, Hitler „von Mißerfolgen enttäuscht“ 1919 nach New York ging, um dort ein schwülstiger Science-fiction- Autor zu werden (wie in einem Roman von Norman Spinrad), ist sozusagen die einfache Version. Komplizierter wird es, wenn der Autor sich selber ins Spiel bringt. In „Schach der Zeit“ von Marcel Thiéry hat der Erzähler, ein Nachfahre des englischen Offiziers, der in diesem Roman für Napoleons Sieg in Waterloo verantwortlich gemacht wird, eine Maschine konstruiert, mit der man in die Vergangenheit schauen kann. Verzweifelt sieht er, daß tatsächlich sein Vorfahr für die Niederlage der Engländer verantwortlich war. Immer wieder schaut er sich den Vergangenheitsfilm an, in der Vorstellung, „die hartnäckige Wiederholung der Vergangenheit werde diese abnutzen und zerschleißen, bis schließlich das entscheidende Leck möglich wäre“. Das Leck entsteht denn auch pathetisch, durch einen Verzweiflungsschrei, der aus der Gegenwart bis in die Vergangenheit schallt, so daß der englische Offizier kurz innehält und sich klüger verhält, Napoleon die Schlacht verliert und so weiter. In der veränderten Vergangenheit, in der Version, gegen die sich die Welt in ihrem Lauf entschieden hat, stirbt der Offizier allerdings in der Schlacht und mit ihm all seine Nachkommen – also auch der Erfinder der Zeitmaschine. Die weiteren Konsequenzen, die die Geschichte in einem Paradox stehenbleiben lassen würden, führt Marcel Thiéry nicht aus: „Wenn der Erfinder nicht existiert hat, konnte er die Vergangenheit nicht verändern, also ist sein Ahne nicht in der Schlacht gestorben, also existiert sein Erfinder, also hat er die Vergangenheit verändert, also existiert er nicht usw.“

Viele weitere seltsame Uchronien streift Carrère, der nur selten die Balance verliert zwischen unterhaltsamem Feuilleton und einer abseitigen literaturwissenschaftlichen Untersuchung. Das verrückteste Buch seiner Sammlung stammt von Léon Bopp. Zwischen 1933 und 1944 schrieb der inzwischen vergessene Schweizer Schriftsteller seine „Verbindungen der Welt“, ein katalogisches Monumentalwerk, in dem alles zwischen Politik, Wirtschaft, Sozialleben und Einzelschicksalen seinen Platz erhält. Bopp sagt im Jahr 1932 für 1935 eine bolschewistische Revolution in Frankreich voraus und läßt sich auch nicht davon beirren, daß diese ausbleibt. Dem Uchronisten bleibt im Zweifelsfall immer der Ausweg in seine phantastische Parallelwelt.

Die totalitäre Geschichtsschreibung hat sich immer gerne der Uchronie bedient: Im Juli 1953 zum Beispiel, als Berija verhaftet wurde, enthielt die „Große Sowjetische Enzyklopädie“, von der monatlich eine Fortsetzung an jedes Parteimitglied verschickt wurde, noch einen langen, lobenden Eintrag über den leidenschaftlichen Freund des Proletariats. „Im Monat, der seiner Ungnade folgte, erhielten die Abonnenten ein Rundschreiben, in dem sie gebeten wurdem, mit Hilfe einer Rasierklinge den Artkel über Berija herauszuschneiden und ihn durch einen anderen zu ersetzen, der dem Schreiben beilag – über die Behringstraße.“ Detlef Kuhlbrodt

Emmanuel Carrère: „Kleopatras Nase - Kleine Geschichte der Uchronie“, Verlag Mathias Gatza 1993, 140 Seiten, 34 DM.