Ganz allein gegen den Atomstaat

Unterwegs von Malville nach Paris: AtomkraftgegnerInnen auf Überzeugungstour in der französischen Provinz / Falsche Geldscheine und echte Unterschriften gegen den Schnellen Brüter  ■ Aus Orléans Dorothea Hahn

Das weißlackierte metallene Werkstor ist kaum in Sicht, da reißt JÛnô schon die Tür des fahrenden Kleinbusses auf. Er will raus, seine gefälschten 100-Francs-Scheine an die ArbeiterInnen verteilen, diskutieren. „Eh“, ruft er den blauuniformierten Wachmännern zu, die sich bei seinem Erscheinen ein bißchen breitbeiniger hinstellen, „ihr seid Menschen wie wir.“ Der mit dem gezwirbelten, rotbraunen Schnäuzer, der Chef der Truppe, ruft zurück: „Wir nehmen nichts.“ Aber JÛnôs Lächeln können selbst die Aufpasser vor dem Atomkraftwerk Dampierre nicht widerstehen. Nach ein paar Minuten halten fast alle einen Geldschein mit aufrührerischen Sätzen in der Hand. „Alle fünf Minuten kostet der Superphénix 100 Francs“, steht auf der einen Seite, „Der Schnelle Brüter hat schon 50 Milliarden Francs verschlungen. Brauchen wir das Geld nicht für wichtigere Dinge?“ auf der anderen.

Überstunden für den Protestmarsch

JÛnô redet unermüdlich. Er sagt, daß endlich Geld in die Entwicklung alternativer Energiequellen investiert gehört. Daß die Elektrizitätsgesellschaft EDF, die Arbeitgeberin der Wachmänner, ein Monopol hat. Daß es viel zuwenig Informationen über die Gefahren der Atomenergie gibt. Daß bis heute niemand eine Lösung für die elf Tonnen hochradioaktiven Mülls gefunden hat, der jedes Jahr in den 56 französischen Atomkraftwerken entsteht. Und daß der Schnelle Brüter definitiv abgeschaltet werden muß. Einem Motorradfahrer, der auf das Werksgelände zusteuert, bedeutet JÛnô, daß er sein Visier hochklappen soll. Einem im Auto auf den Schichtbeginn wartenden Arbeiter signalisiert er, daß er das Fenster herunterkurbeln soll.

„Vielleicht haben Sie recht“, sagt ein nachdenklich gewordener Atomarbeiter, der den Redefluß geduldig angehört hat. „Ja, vielleicht“, antwortet JÛnô. Dann klopft er dem Mann auf die Schulter – „es ist nicht Ihre Schuld, daß Sie hier arbeiten müssen“.

Seit dem 9. April ist der 40jährige Erzieher in der französischen Provinz unterwegs – JÛnô marschiert mit einem harten Kern von 20 Leuten von Malville, dem zwischen Lyon und Genf gelegenen Standort des Schnellen Brüters, zum Matignon, dem Sitz des französischen Regierungschefs in Paris. Seine gesammelten Überstunden und einen guten Teil seines Jahresurlaubs hat er dafür genommen. Lachend stellt er sich als „zukünftiger Veteran der Anti-AKW- Bewegung“ vor und weist auf eine ganze Batterie von Plaketten auf seinem lilafarbenen Sweatshirt. In den Gruppendiskussionen am Abend fordert er stets zu mehr Engagement bei den Straßendiskussionen auf.

Die MitstreiterInnen haben gerade auf dem Parkplatz hinter dem Atomkraftwerk Dampierre Position bezogen. Zwei Frauen bereiten das biologisch-vegetarische Picknick vor. Hinter ihnen steigt weißer Dampf über den beiden Kühltürmen auf. Das Kühlwasser rauscht wie ein Bergbach, autobahnbreite Hochspannungsleitungen führen in die Ferne, darunter liegen Treibhäuser, soweit das Auge reicht. „Die nutzen die Abwärme des Kraftwerks“, scherzt Jacques. Unter einer Plastikplane zaubert der 28jährige Marschierer ein anthrazitgraues Atomkraftwerk auf Rädern hervor, groß wie ein Pkw. Das Transparent „Stopp Superphénix“ wird ausgerollt; ein paar Männer stülpen sich Masken über den Kopf. Der Radfahrer der Gruppe zwingt seinen Hund in einen weißen Plastikoverall. Damit nichts verrutscht, schnallt er dem Tier einen Ledergürtel um den Bauch, und schon prangen die Anti-AKW-Sonnen exakt auf den Hinterflanken.

Eine „Demonstration vor Ort“ steht an beinahe jedem Marschtag auf dem Programm. Mal führt sie die Geschäftsstraßen auf und ab, mal zum Werkstor, wie heute. Alle versuchen Unterschriften zu sammeln, die gefälschten Geldscheine zu verteilen und zu diskutieren. Die Überzeugungstechniken sind grundverschieden. Aber alle bemühen sich, immer freundlich zu bleiben.

In Dampierre ist das nicht ganz leicht. Arbeiter weichen auf die andere Straßenseite aus. Böse Worte allerdings, wie in der Werkssiedlung der Superphénix-Ingenieure bei Malville, fallen hier nicht. Bei Malville hatten Männer vom Straßenrand aus lauthals gegen eine „Rückkehr zur Kerze“ protestiert und die MarschiererInnen als „Utopisten“ beschimpft.

„In dieser Gegend rund um Orléans gibt es haufenweise AKWs am Loire-Ufer“, erklärt der Bergführer und Skilehrer Silvain, der seit ein paar Tagen mitmarschiert. Daß es hier kaum Widerstand dagegen gibt, erstaunt ihn nicht. „Wenn man mit so was Aug' in Auge lebt, arrangiert man sich“, sagt er. Die Hoffnung auf eine Wende im Atomstaat Frankreich – dem Land mit der weltweit größten AKW-Dichte – hat er trotzdem nicht aufgegeben: „Wir müssen Geduld haben.“

So groß war die Zurückhaltung früher nicht. Noch in den 70er Jahren gab es eine europäische Bewegung gegen den Superphénix. An der großen Demonstration am Bauplatz im Juli 1977, bei der der 31jährige Michal Vitalon durch eine Polizeigranate ums Leben kam, nahmen 80.000 Menschen teil, darunter viele Deutsche. Sie waren zum letzten Mal gekommen: Kurz „nach Malville“ fiel in Bonn die Entscheidung gegen Kalkar, und das Thema Schneller Brüter war vom Tisch. Die französischen AKW-GegnerInnen machten sich rar, nachdem 1981 der Sozialist François Mitterrand Staatspräsident wurde.

Der Brutreaktor von Malville, der Frankreich einst vom Erdöl unabhängig machen sollte, ist immer eine Baustelle geblieben. Seit seiner ersten Inbetriebnahme vor acht Jahren jagte ein Zwischenfall den anderen – insgesamt war der Superphénix nur 176 Tage am Netz. Zwischendurch wurde er repariert und umgebaut, wie gerade jetzt wieder. Laut einem Regierungsbeschluß vom Februar soll er in den nächsten Monaten wieder angeschaltet werden – allerdings nicht zu kommerziellen, sondern nur noch zu Forschungs- und Demonstrationszwecken.

Der Unfall von Tschernobyl ist in Erinnerung geblieben

Nach Einschätzung der „Européens contre Superphénix“ in Lyon, die den Malville-Matignon- Marsch organisiert haben, ist die Chance für ein endgültiges Abschalten größer denn je. Mitorganisator Michel Bernard, der schon 1977 dabei war und auch 1982 den ersten Marsch auf Paris mitmachte, hält seine Landsleute durchweg für atomkritisch. Der „Tschernobyl-Faktor“ spiele dabei die größte Rolle. „In Frankreich will niemand mehr den Superphénix“, versichert er, „die Regierung traut sich nur nicht zum Ausstieg, weil sie Angst vor dem Ärger mit den Deutschen und den Italienern hat.“ Die deutschen RWE halten 16 Prozent des Kapitals, die italienische ENEL 33 Prozent, die restlichen 51 Prozent sind in der Hand der französischen Elektrizitätsgesellschaft EDF.

Die beiden aus Berlin angereisten deutschen Marschiererinnen staunen auch nach drei Wochen noch darüber, „wie aufgeschlossen die Franzosen reagieren“. Zwei von drei Angesprochenen unterschreiben die Postkarte, viele sind bereit, für das Flugblatt – „mindestens einen Franc“ – zu zahlen.

Daß trotz aller Atomkritik nur 20 Menschen zu dem Marsch gefunden haben, findet Michel Bernard nicht beunruhigend. Der Marsch ist für ihn längst ein Erfolg. Schließlich hätten eine ganze Reihe von BürgermeisterInnen den Aufruf unterschrieben und die lokalen Medien ausführlich berichtet. Überregional war zwar bisher wenig über den Marsch zu erfahren, doch Michel Bernard ist zuversichtlich, daß die Medien reagieren werden, „wenn wir am 8. Mai in Paris ankommen und die Tausende Unterschriften gegen den Schnellen Brüter der Regierung überreichen“.

Bis dahin sieht die Marschroute noch einige große Schleifen um die Hauptstadt vor. Dort, wo viele Menschen zu erwarten sind, werden die MarschiererInnen zu Fuß gehen – lange Strecken werden sie wie bisher in den Kleinbussen zurücklegen, die von zwei weißhaarigen Damen gesteuert werden: JÛnôs Mutter Suzanne und der 74jährigen Paulette, die in den 70er Jahren gegen das Militärlager von Larzac und später gegen einen Tunnel durch die Pyrenäen gekämpft haben.

Henriette aus Lyon ist im Vergleich dazu eine politische Anfängerin. Sie macht sich bis heute Vorwürfe, weil sie „damals“, in den 70er Jahren, nicht gegen den Schnellen Brüter demonstriert hat, obwohl Atomenergie doch „wichtigstes Thema“ ist. Jetzt, da sie bald 60 wird, ihre Arbeit als Lehrerin hinter sich hat und die Kinder selbständig geworden sind, nimmt sie an dem Malville-Matignon- Marsch teil.

Die zierliche Frau mit dem beigen Stoffhut tut es gewissenhaft. Kinder bekommen von ihr den gefälschten Geldschein und den Hinweis: „Gut aufbewahren, das ist wertvoll.“ Erwachsene fragt sie, ob sie schon mal vom Superphénix gehört haben. Vor dem Atomkraftwerk Dampierre ist das alles nicht nötig. Da verteilt Henriette einfach ihr Informationsmaterial und warnt die Atomarbeiter: „Das ist gefährlich.“

JÛnô, der „zukünftige Veteran der Anti-AKW-Bewegung“, glaubt, daß der Superphénix letztlich mit wirtschaftlichen Argumenten geschlagen werden muß. „Wir haben hier Massenarbeitslosigkeit“, sagt er, „in jeder Familie mindestens einen. Da interessieren sich die Leute nicht so für die Umwelt und die Zukunft.“

Ein bodygestählter Blonder kommt vom Werksgelände und strebt seinem Wagen entgegen. Als er den AKW-Gegner sieht, will er ausweichen. JÛnô begrüßt ihn trotzdem freundlich. Dann fragt er ihn: „Was brauchen Sie, um glücklich zu sein?“ Der Blonde antwortet, ohne zu überlegen: „Einen Job, bei dem ich so gut verdiene wie hier.“ Mit etwas Verzögerung schiebt er hinterher: „Und eine Frau.“