■ Warum die Japaner den Reformern nicht mehr vertrauen
: Nippon im Jahr 1794

Nach acht Monaten rasender Veränderungen ist Japans politische Revolution in der vergangenen Woche zu einem jähen Stillstand gekommen. Plötzlich ist die Regierung machtlos, sind alle nahen Reformpläne zerstoben. Denn Japan, wo Konsens mehr zählt als Führungskraft, läßt sich nicht von einer Minderheit regieren. Kein einziges neues Gesetz wird das neue Minderheitskabinett von Premierminister Tsutomu Hata gegen den Willen einer reformunwilligen parlamentarischen Opposition durchsetzen können. Von mehr Transparenz und Demokratie, von Liberalisierung und Marktöffnung in der zweitgrößten Wirtschaftsmacht dürfen nunmehr wieder die Utopisten träumen. Statt dessen schöpfen die alten Kräfte wieder Hoffnung. Liberaldemokraten und Sozialdemokraten, die großen Parteien der Nachkriegszeit, deren Zerfall zuvor nur noch als eine Sache von Wochen und Monaten erschien, können nun in der Opposition vereinigt Neuwahlen erzwingen. Sie werden diese Chance aller Wahrscheinlichkeit nach nutzen: denn die noch Regierenden haben vorläufig nicht nur ihre Reformpläne, sondern auch ihre Unterstützung im Volk verspielt.

Zu schnell folgte ein Erfolg auf den anderen: Nach fast 40 Jahren uneingeschränkter Machtfülle brach die Herrschaft der japanischen Liberaldemokraten im letzten Sommer unter dem Ansturm der neuen Kräfte zusammen. Ihres Sieges gewiß, zogen die jungen Bannenträger der Reformen damals in den Wahlkampf, und nur mühsam konnte ihnen die alte sozialdemokratische Opposition folgen. Inzwischen aber sind die Namen der Helden verblaßt. Sie lauteten Morihiro Hosokawa, der sein Amt als Regierungschef schon vor Wochen leichtfertig aufgab, Tsutomu Hata, der vor acht Tagen seine unglückliche Nachfolge antreten mußte, und Ichiro Ozawa, der strategische Kopf aller Veränderungen, den das Glück erst in dieser Woche verließ.

Denn wie immer, wenn große Revolutionäre am Werk sind, riskieren sie, ihre Kräfte gegen jene der Reaktion zu überschätzen. Die Düpierung und Beleidigung der japanischen Sozialdemokraten von seiten der übrigen Koalitionsmitglieder und ihr anschließender Abschied aus der Regierung gleicht dem klassischen Fehler, den Robespierre, der unnachgiebige französische Revolutionär, mit der Verprellung der Girondisten, seiner gemäßigten Verbündeten, vor genau zweihundert Jahren begang. Nicht die politischen Ziele des Robespierre wurden anschließend vom Pariser Volk verworfen, wohl aber seine Arroganz und Herrschsucht.

Nicht anders geht es den Japanern mit ihrer Regierung von Gnaden des Schattenkönigs Ichiro Ozawa, der offiziell nur Generalsekretär seiner Partei ist und doch seit einem Jahr alle politischen Fäden zieht. Schon hassen die Japaner jenen unsichtbaren, aber allgegenwärtigen Mann, der den Regierungswechsel im letzten Jahr erst möglich machte, eine scheinbar unmögliche Koalition schmiedete und mit Morihiro Hosokawa den populärsten Regierungschef seit dem Krieg kürte. Ihn fallenzulassen, als es opportun erschien, war Anfang April der erste Kardinalfehler des Kulissenherrschers Ozawa. Der zweite folgte sogleich: Nur Stunden nach der Wahl seines Verbündeten Tsutomu Hata zum Regierungschef betrieb Ozawa die Gründung einer neuen Parlamentsfraktion unter Ausschluß der Sozialdemokraten. Niemand rechnete damit, daß die Sozialdemokraten zu diesem Zeitpunkt noch die Regierung verlassen würden. Aber sie, die ewig Machtlosen, taten es doch und machten damit vielleicht zum ersten Mal Geschichte.

Alles, was den Revolutionären in Tokio jetzt noch bleibt, sind ihre Ämter. Gerade erst hatten sie die gemeinsame Unterstützung von Arbeitgebern und Gewerkschaften gewonnen. Nun mußten sie hinnehmen, wie die Vertreter von Kapital und Arbeit gemeinsam ihre Zusammenarbeit mit der Regierung aufkündigten. Für Japan aber beginnt erst heute das eigentliche gesellschaftliche Drama: Was tun, wenn die neuen politischen Kräfte versagen und die alten sich anschicken, die Macht zurückzuerobern? Die Japaner wollten mehr Freizügigkeit und weniger Bürokratie in ihrer Gesellschaft, sie wollten politische Alternativen statt der maroden Einparteiendemokratie. Sie wollten einen größeren Teil ihres immensen Reichtums für sich selbst beanspruchen, statt ihn den Konzernen zu überlassen. Doch die Revolutionäre können das Volk betrügen, das Volk sich selbst aber nicht. Aus diesem einfachen Grund sind die meisten Japaner in diesen Tagen schlicht ratlos. Georg Blume