Richtschmaus für einen Satelliten

Das größte Berliner Siedlungsprojekt in Altglienicke feiert heute für 587 Neubauwohnungen Richtfest / Grundsteinlegung für weitere 944 Wohnungen / Kosten rund 900 Millionen Mark  ■ Von Rolf Lautenschläger

„Altglienicke wird in den nächsten Jahren einer der Wohnungsbauschwerpunkte in Berlin sein, dem vor allem durch die nahe Lage zu den Landschaftsräumen um den Müggelsee und den umfangreichen Arbeitsstätten im Südosten der Stadt Bedeutung zukommt.“ Bausenator Wolfgang Nagels Worte aus der Broschüre der Wohnungsbaugesellschaft „Stadt und Land“, die heute unter der Überschrift „Bruno Taut über die Schulter geschaut“ das Richtfest und die Grundsteinlegung zweier Bauabschnitte der Siedlung Altglienicke feiert, klingen vage.

Die Erinnerung an den Architekten Bruno Taut (1880 bis 1938), den die „Stadt und Land“ als Paten für ihre neue Siedlung aufs Schild hebt, stellt sich bei einem Gang zwischen den eben fertiggestellten Rohbauten unmittelbar ein. Die 587 Wohnungen des ersten Bauabschnitts und die zusätzlich geplanten Blöcke für 944 Wohnstätten, für die der Grundstein gelegt wird, assoziieren den Stil des Baumeisters der klassischen Moderne: Die vier- und fünfgeschossigen Bauten für insgesamt 2.400 Wohnungen im Südosten Berlins nehmen den Charakter einer Gartenstadt auf. Auf dem dreieckigen Areal rahmen die bogenförmig, rechteckig und parallel verlaufenden Zeilen nach Süden offene Wohnhöfe für „Licht und Luft“. Die langen Bauten mit einem Pultdach nehmen einen Turmbau als „Stadtkrone“ in ihre Mitte.

Die Bedeutung Altglienickes für die Zukunft der Berliner Stadterweiterung spielt eine nicht geringe Rolle. Altglienicke ist der erste große Siedlungsbau in Berlin nach dem Fall der Mauer. Für das Wohngebiet wurde 1990 von der kommunalen „Stadt und Land“ ein Realisierungswettbewerb ausgelobt, den die Architekten Frank Dörken und Volker Heise mit der „Taut-nahen“ Konzeption für sich entscheiden konnten. Das Gesamtvolumen des Bauvorhabens für Wohnungen des sozialen Wohnungsbaus sowie teilgeförderte und freifinanzierte Wohnungen beträgt rund 900 Millionen Mark, die bis zum Jahr 2000 verbaut werden sollen. Zusätzlich sind für die Siedlung auf den Fundamenten einer nicht fertiggestellten Plattensiedlung Geschäfte, Kitas, Schulen und ein Warenhaus geplant.

Doch trotz der guten baulichen Struktur hat die Zeit den Städtebau für Altglienicke heute, kaum zwei Jahre nach Baubeginn, schon eingeholt. Angedacht wurde das Projekt unter den Zeichen einer sprunghaft wachsenden Bevölkerung nach dem Mauerfall, einer prosperierenden Wirtschaft und neuen Arbeitsorten, die den Stadtzusammenhang zwischen Zentrum und Peripherie neu herstellen sollten. Die neuen Quartiere bildeten dabei quasi die neuen Stadtränder. Der Euphorie ist die Desillusion gefolgt. Die Arbeitsorte und sozialen Infrastruktureinrichtungen lassen sich schwer finanzieren, der Stadtzusammenhang fehlt.

Die sogenannte „Stadterweiterung“ ist für Altglienicke bislang nur ein Versprechen geblieben. Kommt es einem da nicht vor, als ob die städtebaulichen Fehler der Vergangenheit erneut aufgelegt würden? Statt Stadt werden isolierte Siedlungen mit vielen Wohnungen gebaut. Statt Stadt bleiben Satelliten. Wenn heute in Altglienicke beim wohlverdienten Richtschmaus und der Grundsteinlegung der Wind zwischen den halbfertigen Zeilen hindurchpfeift und der Staub vom Bauplatz herüberweht, sollten die Bauherren daran denken.