■ SoziologInnen rätseln über Welle gewalttätiger Desperados
: Finnland Cowboys go Amok

Helsinki (taz) – Die Gebrüder Kaurismäki können derzeit gleich mehrere neue Drehbücher über die geheimnisvollen Tiefen der finnischen Seele schreiben. Der Stoff für Filme liegt auf der Straße, lauert auf dem Balkon, versteckt sich in den Wäldern. Die Kriminalreporter der Boulevardpresse sind im Dauereinsatz, und die mobilen Fernsehteams haben plötzlich Aufregenderes als Abrüstungskonferenzen im schicken Tagungszentrum vor der Linse. In Finnland scheint Chicago ausgebrochen zu sein. Und niemand weiß so recht warum.

Das vorläufig letzte Kapitel in der Reihe von Gewalttaten, Geiselnahmen, Bombenexplosionen und wilden Schießereien wurde in der vergangenen Woche geschrieben. Da war Juha Valjakkala, dreifacher Mörder, Finnlands angeblich gefährlichster und unberechenbarster Gefangener, ausgebrochen. Er, der auch als bestbewachter Lebenslänglicher galt, zog in einer Unterrichtsstunde – er bildete sich weiter – plötzlich einen Revolver aus der Tasche, nahm den Lehrer als Geisel, ließ sich so alle Gefängnistüren öffnen und verschwand in den tiefen finnischen Wäldern.

Dem konsternierten Gefängnisdirektor fiel da nur ein Vergleich zu seiner Entlastung ein: auch die RAF-Gefangenen Baader und Meinhoff hätten es ja irgendwie geschafft, sich Pistolen in eines der weltweit angeblich sichersten Gefängnisse einschmuggeln zu lassen.

Nicht weniger als fünf Desperados haben im gewöhnlich recht friedlichen Finnland in den letzten Wochen wild und offenbar planlos um sich schießend Angst und Schrecken verbreitet. In Lahti war es ein Lebenslänglicher, der aus dem Knast ausgebüchst war und sich einen Tag lang in der Stadt verschanzte. In Kotka tötete ein Soldat drei Nachbarn. In Oulu schoß sich ein Amokläufer quer durch die Stadt und verletzte dabei einen Polizisten. Und am letzten Dienstag tötete in Kajani ein Mann einen für ihn wildfremden Restaurantgast und schoß wenig später einen anderen Mann in den Kopf.

In Sodankylä, dem lappländischen Ort, wo alljährlich das von den Regisseursbrüdern Kaurismäki gegründete Filmfestival stattfindet, belagerte die Polizei ebenfalls in der letzten Woche ein Haus, wo sich ein Mann mit seinem Elchstutzer verschanzt hatte und wild um sich schoß, bevor er die Waffe auf sich selbst richtete. Gleichzeitig gab es eine Welle von zum größten Teil ungeklärten Bombenanschlägen gegen öffentliche Gebäude – vor allem Polizeistationen. Während die Polizei von einer zufälligen Häufung spricht und TV und Sensationsmedien wegen deren Berichterstattung für diese Welle teilweise mit verantwortlich machen will, halten SoziologInnen das Ganze für keinen Zufall: Die lange wirtschaftliche Depression mit einer über 20prozentigen Arbeitslosigkeit setze nun ihre Spuren. Andere machen das martialische Vergehen der Polizei, die jeweils mit großem Kampfaufgebot auf den Schauplätzen der Gewalttaten erscheine, mit verantwortlich. Dies reize potentielle Amokläufer erst dazu, sich selbst in eine solche Aktion zu stürzen. Das Innenministerium will erst einmal forschen lassen. Eine spezielle Untersuchungsgruppe wurde vergangene Woche eingesetzt, die versuchen soll, jeden einzelnen Gewaltfall sorgfältig zu analysieren. Man will herausbekommen, ob es irgendeinen gemeinsamen Nenner bei den spektakulären Gewalttaten der letzten Zeit gibt.

Völlige Entwarnung geben dagegen die Statistiker: die Gewaltkurve im Land zeige eigentlich nach unten. Gleich, was gerade an Direktübertragungen über die Bildschirme flimmert oder die Auflagen der Boulevardpresse steigen läßt. Reinhard Wolff