: Wieviel Freiheit braucht die Kunst?
Totalitäre Systeme im ästhetischen Dialog: Eine Ausstellung über „Kunst und Diktatur“ im Wiener Künstlerhaus gibt ein Beispiel dafür, wie moderne Ausstellunsdidaktik die Suggestionskraft der Werke brechen kann ■ Von Robert Misik
Gesellschaften kennen, wohl unabhängig vom Maß der medialen Durchdringung, zwei Arten der Erzählung: die Erzählung durch Texte und die Erzählung durch Bilder. Wir lassen uns durch diese Texte und Bilder an vergangene Zeiten erinnern, aber wir blicken nicht aus dem Nichts – es ist der Blick des Wissenden, ein Hören und Schauen im Kontext. Trotz dieser Dichotomie rebelliert die Kritik, wenn es um die Erinnerung an totalitäre Regime im allgemeinen, an den Nationalsozialismus und den Holocaust im besonderen geht, vor allem gegen das Bild.
Geht es um das Bild der Opfer – egal ob Originaldokument oder das Bild, das wir uns nachträglich machen –, bricht sich das Urteil Bahn, hier erschlügen Film und Fotos, die die realen Grauen nie widerspiegeln könnten, unser imaginäres Bild des Leids. Geht es aber um die Bilder der Täter, die diese damals machten oder von sich machen ließen, meldet sich anderes Mißbehagen. Man unterstellt ihnen eine ungebrochene Suggestionskraft, folglich sei sie dem „einfachen Volk“ nur in verträglichen Dosen und mit dem Zeigefinger zu servieren. So sehr sie ihren eigenen Fähigkeiten zur Reflexion mißtraut, so wenig gibt die Kritik auf das Sehen im Kontext der Ausstellungsbesucher. Wer wagt, Nazi-Kunst – also im Grunde Propaganda, der die Ästhetik bloße Dienerin ist – in die Schauhallen zu bringen, der muß mit erregtem Einspruch rechnen.
Um so bemerkenswerter ist eine Ausstellung, an der sich jetzt das Wiener Künstlerhaus versuchte. In die zwei Geschosse des Kunsttempels haben der Ausstellungsmacher Jan Tabor und sein Team alles gepfercht, dessen sie zum Thema „Kunst und Diktatur“ habhaft werden konnten: die Kunst Nazi- Deutschlands (1933 bis 1945), der nachrevolutionären und stalinistischen Sowjetunion (1922 bis 1956), des faschistischen Italien (1922 bis 1945) und des österreichischen Klerikalfaschismus (1934 bis 1938). Gerade im Dialog der unterschiedlichen autoritären und totalitären Regime gelingt es so, Urteile zu bestätigen, Neues zu sehen, Vorurteile zu revidieren. Die Ausstellungsmacher haben sich hier absichtlich auf ihr eigentliches Handwerk, auf das schlüssige und überraschende Plazieren der Werke, auf das Anordnen, beschränkt. Sie belehren nicht, sondern sie lehren – geben ein Beispiel dafür, wie moderne Ausstellungsdidaktik die Suggestionskraft der Werke brechen kann. „Wir wollten nicht dozieren, wir wollten bloßstellen – im eigentlichen Wortsinn“, meint Ausstellungsleiter Jan Tabor, der im Katalog als „Privatgelehrter“ fungiert. Tatsächlich war Tabor bis 1992 als renommierter Kritiker für Bildende Kunst und Architektur für diverse österreichische Tageszeitungen tätig.
„Kunst ist eine erhabene und zum Fanatismus verpflichtende Mission.“ Das Hitler-Zitat prangt auf dem Folder zur Ausstellung. Die Weite eines Platzes, den Umraum einer Wand, die Skulpturen und Gemälde benötigen, um jene pflichtschuldige Erhabenheit zu erlangen, hat ihnen Tabors Team nicht zugebilligt. Adolf Hitler etwa hängt in einem halben Dutzend Porträts, gleichsam übereinander an der Wand gestapelt, daneben NS-Größen und Bürgermeister in ähnlicher Pose – die Individualität, die jedes einzelne der Porträts haben mag, geht in der Verwechselbarkeit des totalitären Zeitgeistes auf, die Personen werden zur Ausgeburt der Un-Persönlichkeit einer Bewegung, die sich mit Bildern zu bestätigen suchte. Daß etwa der abgebildete Bürgermeister Christoph das vom Maler Hubert Lanzinger gemalte Porträt seiner Frau zum Geburtstag schenkte, scheint in diesem Zusammenhang beinahe obszön. Es wird nicht hergezeigt, sondern deponiert – Kunst für die, Kunst in der Abstellkammer.
Eines der Vorurteile, die es zu revidieren gilt, lautet, daß totalitäre Regime den radikalen Bruch mit der Moderne vollzogen, daß die Rückwendung ins Figurale und die politische Reaktion einander bedingende, parallele Prozesse sind.
Dies scheint doppelt falsch. Einerseits war die Sehnsucht nach dem Realismus in der Folge des Schocks der Moderne weit verbreitet – eine Sehnsucht, die selbst in die Reihen der künstlerischen Avantgarde reichte, wie der gut edierte Ausstellungskatalog deutlich macht. So hat etwa Henri Matisse über seine Wende ins Traditionelle geschrieben: „Ich hatte lange, ermüdende Jahre der Experimente hinter mir... Ja, ich mußte Atem schöpfen, mich in aller Ruhe gehenlassen.“ Und auch Pablo Picasso suchte die Vergewisserung in der Rückkehr zu klassischen Formen.
Andererseits hat allein der deutsche Nationalsozialismus die Moderne kategorisch ausgerottet. Selbst in der Kunst des realen Sozialismus finden sich bemerkenswerte Spuren der Moderne – noch bis zu Beginn der dreißiger Jahre wurden Konstruktivisten wie El Lissitzky ausgeschickt, um den Ruhm der Sowjetmacht bei internationalen Ausstellungen – etwa der Kölner „Pressa“ 1928 – zu mehren. Geradezu sichtbar und erfahrbar wird die Kommunikation von Realismus und Konstruktivismus in Konstantin Johns Bild „Neuer Planet“. Es sei, schließt aus all dem die Wiener Kunsthistorikerin Monika Faber in ihrem Katalogbeitrag, wohl kein Zufall, daß „ein und derselbe Künstler, Herbert Bayer, Ausstellungen politischen Inhalts für unterschiedliche Regime gestalten konnte: 1935 in Berlin die Ausstellung ,Das Wunder des Lebens‘ im Zeichen nationalsozialistischer Gesinnung und mit völkischer Ausrichtung, sieben Jahre später in New York hingegen die Ausstellungen ,Road to Victory‘ und ,Airways to Peace‘, in denen dem Publikum des Museum of Modern Art der Kriegseintritt der USA und die Luftangriffe auf Europa visuell plausibel und ästhetisch konsumierbar gemacht werden sollten.“
Vor allem aber in Italien stützte sich die neue Herrschaft nicht auf das Hergebrachte, sondern instrumentalisierte die neuen Techniken der Moderne. Während der Nationalsozialismus – jedenfalls in kultureller Hinsicht – zur kategorischen Negation der Moderne geriet, scheint der italienische Faschismus im nachhinein geradezu als Modernisierungsprojekt. Die verspätete Einigung des Landes machte paradoxerweise gerade die Avantgarde zum Träger einer ersten Nationalkultur. Sie vollbrachte die „mit dem Risorgimento begonnene Einigung des Landes“, war Kraft, „die endlich jene regionalen und lokalen Spielarten, welche seit jeher die italienische Kunst geprägt hatten, in den Bereich der Folklore verbannen konnte“ (Laura Safred in ihrem Beitrag über „Die geheiligtsten Werte der Hierachie“). In den losen Kunstströmungen der Futuristen und des „Novecento italiano“ fanden Mussolinis Faschisten zumindest Wegbegleiter, wenn nicht Verbündete.
In einem komplizierten Beziehungsgeflecht zwischen Avantgarde, totalitärer Herrschaft und radikalem Technizismus – in dem persönliche Freundschaften des Duce, etwa zur Novecento-Inspiratorin Margherita Sarfatti, wesentliche Bedeutung erlangten – entstand so ein vom nationalsozialistischen Deutschland deutlich unterscheidbarer Weg. Besonders von der Technik und Geschwindigkeit mythisierenden „Aeropittura“-Bewegung wurden Werke geschaffen, die kaum national zuordenbar scheinen und zur gleichen Zeit auch in Paris oder New York gemalt worden sein könnten.
So wirft die Ausstellung vor allem Fragen auf und beantwortet nur wenige. Die Vorstellung, es gäbe eine klar identifizierbare Kunst totalitärer Regimes gerät immer mehr in Zweifel. Paradoxerweise schlägt der Versuch, die totalitären Regime dieses Jahrhunderts zu historisieren und in vergleichender Betrachtung zu relativieren in sein Gegenteil um: Die Unterschiede sind, nehmen wir nur alles in allem, bedeutender als die Gemeinsamkeiten. Die Singularität des NS-Regimes wird daneben deutlicher als zuvor.
Selbst während der düstersten Periode des Stalinismus war die Ausrottung der Moderne kein Imperativ, ganz zu schweigen vom italienischen Faschismus, dem österreichischen Klerikalfaschismus oder den Staaten des sowjetischen Glacis in Osteuropa nach 1945. Zwar werden diese Regime in der Ausstellung nicht direkt behandelt, finden aber auf Umwegen Eingang in den Katalog, etwa in den Essays der tschechischen und ungarischen Dichter Ludvik Vakulik, Ivan Klima und György Dalos oder der sowjetischen Malerin Wera Drezina, die aus dem Leben einer staatsnahen Künstlerin einiges zu berichten hat. Mit ihrem Großepos auf den Tscheka-Gründer Felix Dzerschinskij ist sie auch in der Ausstellung vertreten.
Dieser Unterschied der Regime wird auch in der Anmerkung Ludvik Vakuliks deutlich, der fragt: „Aber ist die öffentliche Freiheit für das Schaffen notwendig?“ Gerade in den osteuropäischen Ländern konnten Künstler immerhin auf einem zweiten Markt produzieren, konnten sie selbst im schlimmen Fall der Verbannung noch schreiben – die physische Bedrohung, in Nazi-Deutschland Regelfall, blieb auf einzelne Zeitabschnitte und einzelne Individuen beschränkt. Daß die deutsche Nachkriegskultur beinahe ganz von vorn beginnen mußte, während etwa die sowjetische Avantgarde der Perestroika-Ära fast nahtlos an die Traditionen der russischen Moderne anknüpfen konnte, erscheint als ein weiterer Beleg für diese unterschiedlichen Entwicklungen.
All diese Antworten muß sich der Betrachter selbst suchen – was ohne die Lektüre des umfangreichen Katalogs oder gründlicher historischer und kulturgeschichtlicher Vorbildung nicht gelingen kann. Die Hilfen, die die Ausstellungsmacher an die Hand geben, sind spärlich. Das geschah in redlicher Absicht, Jan Tabor und sein Team wollten jeden schulmeisterlichen Gestus vermeiden. „Wenn jemand Lenin nicht kennt, können wir das auch nicht mehr ändern“, weist der Ausstellungsplaner Kritik von sich. Leider irrt auch, wer Sergeij Kirow (den von Stalins NKWD ermordeten Leningrader KPdSU-Chef) oder John Heartfield nicht kennt, orientierungslos durch die Fülle an Schaustücken. Hier wäre ein wenig mehr didaktisches Bemühen hilfreich gewesen.
Die Ausstellungsmacher wollten anordnen. Einordnen muß der Besucher selbst. Wer das dafür nötige Koordinatensystem nicht bereits mitbringt, wird scheitern – oder zumindest für manche biographische Ambivalenz wenig Verständnis aufbringen.
„Kunst und Diktatur – Architektur, Bildhauerei und Malerei in Österreich, Deutschland, Italien und der Sowjetunion 1922 bis 1956“. Wien, Künstlerhaus, Karlsplatz. Die Ausstellung ist noch bis zum 15. August zu sehen.
Der Ausstellungskatalog, 2 Bände, 1.001 Seiten, kostet ca. 75 DM.
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