Die Teilnahme am Leben verweigert

■ Bundesweit einmalige Aktion: 1. Bremer Behindertenparlament tagte

Im Eingang zum Plenarsaal stauen sich die RollifahrerInnen, eine Abgeordnete spricht in Gebärdensprache zum Parlament, und die Sitzungsvorlagen des Präsidenten sind in Blindenschrift abgefaßt: Die Bremische Bürgerschaft war gestern fest in der Hand von behinderten Frauen und Männern. „Dieses Jahr auf der Straße, nächstes Jahr im Parlament und übernächstes Jahr im Senat!“ 2.000 Behinderte waren im letzten Jahr zum Protesttag gegen Diskriminierung behinderter Menschen auf die Straße gegangen und hatten diesen Wahlspruch ausgegeben. Mit dem gestrigen 1. Bremer Behindertenparlament, einer in der Deutschland bisher einmaligen Aktion, sind bereits zwei der drei Punkte in Erfüllung gegangen. Die Sozialdeputation hatte es zusammen mit Sozialsenatorin Gaertner ermöglicht, daß das hohe Haus zur Verfügung stand.

27 Tagesordnungspunkte und Anträge – von der Forderung nach einem Antidiskriminierungsgesetz über gleiche Ausbildungschancen für Behinderte bis zur Selbstverwaltung Psychiatrisierter – rief Sitzungspräsident Uwe Boysen, sonst Richter am Landgericht und blind, auf. Rund 100 Abgeordnete hatten über die Anträge zu befinden, ihre Redebeiträge wurden von über 400 ZuschauerInnen meist begeistert beklatscht. In bemerkenswerter Disziplin arbeitete das rappelvolle Plenum die Tagesordnung durch – ohne böse Zwischenrufe, größere Streitereien und mit fast durchweg einstimmigen Voten. Die Fraktionen der Mobilitätsbehinderten, der Psychiatrisierten, der Gehörlosen, die Fraktion der AssistenznehmerInnen, die der Spastikerhilfe und alle anderen schlossen sich zu einer einzigen starken Koalition zusammen.

„Für mich ist es das Wichtigste, endlich einmal überhaupt erhört zu werden.“ Für Käthi George hat meist die „normale“ Welt kein Gehör – da die ihre Sprache nicht spricht. Eine Dolmetscherin übersetzte ihre Forderungen für das Plenum: „Ohne Gebärdensprache wird uns Gehörlosen die Teilnahme am sozialen Leben verweigert.“ Mit einer gesetzlichen Anerkennung der Gebärdensprache und einer gesicherten Finanzierung für Gebärdendolmetscher sei es nicht zuletzt möglich, „auch an jedem anderen Plenum teilzunehmen.“

Horst Frehe wußte noch, wie man die automatische Höhenverstellung am RednerInnenpult bedient: Bis vor drei Jahren saß er als der erste und einzige behinderte Abgeordnete für die Grünen in der Bremischen Bürgerschaft; für ihn wurde damals eigens umgebaut. Gestern kehrte er an seine alte Wirkungsstätte zurück: „Wir wollen nicht Hilfe und Mitleid, wir wollen Gewalt abschaffen“, so Frehe. Und mit Gewalt war die alltägliche Aussonderung, Demütigung, und Diskriminierung genauso gemeint wie tätliche oder verbale Gewalt. Einstimmig wurde eine Vorlage verabschiedet, die sich gegen die Relativierung des Lebensrechts Behinderter ausspricht: „Wie soll ich mit jemandem diskutieren, der meinesgleichen für lebensunwert hält?“ fragte Frehe – zum Beispiel mit einer Humangenetikerin, die auf einer Veranstaltung die Krankheit Muskelschwund als unzumutbar für Eltern und ihre erkrankten Kinder erklärt habe, „und jetzt sitzen vier Freunde von mir mit dieser Krankheit in diesem Plenum?“

„Ich wurde auf dem Tisch festgeschnallt und mir wurde ein Knebel in den Mund gesteckt. Ich schrie, doch je mehr ich schrie, desto stärker wurden die Stromstöße. Einmal waren die Stromstöße so stark, daß ich bewußtlos wurde. Ich erlebte die völlige Demütigung und fühlte mich behandelt wie ein Tier.“ Der geschäftsmäßige Ton der Sitzung, das „Der Senat möge beschließen“, wurde jäh unterbrochen. Die Rednerin, die 36 Jahre ihres Lebens in psychiatrischen Anstalten verbracht hat, erregte aber wohl eher bei den nichtbehinderten ZuhörerInnen Entsetzen. Es schien, als seien solche Geschichten für die als „nicht-normal“ definierten Menschen „normal“.

Der dicke Packen der verabschiedeten Anträge wird nun den Abgeordneten des „normalen“ Parlaments überreicht werden – Forderungen nach besserer Bezahlung und sozialer Absicherung von Werkstattarbeitsplätzen, die Finanzierung von behindertengerechtem Bauen und Wohnen, die Forderung nach einer Schule für behinderte und nichtbehinderte Kinder, ein detaillierter Entwurf für ein Bremisches Landesgleichstellungsgesetz und darüber hinaus viele Anregungen, mit dem sich dessen Abgeordnete nun auseinandersetzen sollen.

skai