Geborgte Bilder

■ "Die Jüdin und der Hauptmann": Fragmentarische Collage und Liebesgeschichte

„Woher haben Sie dieses Bild?“ Ilse Stein nimmt das Foto in die Hand und schüttelt leicht den Kopf. Nach 50 Jahren sieht sie Willi Schulz auf dem Gruppenbild wieder. Und die Jüdin aus dem hessischen Dorf Geiß-Nidda beginnt sich zu erinnern: Wie sie mit 18 Jahren von Frankfurt am Main in das Minsker Ghetto deportiert wurde und dort den diensteifrigen Militärbeamten und NSDAPler Schulz kennenlernte, an die Arbeitskolonne im Kesselwerk, an ihre Liebe zu diesem Hauptmann, der sie ein Jahr lang vor den Pogromen im Ghetto schützen konnte. An die gemeinsame Flucht und an den Tag, als ihr Freund vom russischen Geheimdienst abgeholt wurde. Sie hat nie wieder von ihm gehört. Für die Erinnerungen, die ihr geblieben sind, hat Regisseur Ulf von Mechow in seinem Dokumentarfilm „Die Jüdin und der Hauptmann“ Bilder gesucht, nicht als Beweismaterial, sondern als vage und behutsame Illustration einer Biographie.

Filme über die Judenverfolgung haben es nach „Schindlers Liste“ schwer. Bildsatt glaubt das Publikum gesehen zu haben, was der Holocaust bedeutet. Dabei orientiert sich Spielberg weder an dem Schicksal eines Nazi-Opfers, noch hat er eine Liebesgeschichte als Tränentreiber installiert. Doch scheinauthentische Einstellungen suggerieren ein „Ja, so war es damals“. Die Vorstellung vom Unvorstellbaren muß filmillusionistischen Regeln unterworfen bleiben.

Ulf von Mechow berichtet von einem Einzelschicksal, von einer Liebesgeschichte, wenn man so will. Bei ihm ist die filmische Erinnerung eine Collage aus Geborgtem, aus Fotos von Familienalben, Filmausschnitte aus russischen und deutschen Archiven mit Unbekannten, die mit Ilse Stein nicht mehr gemein haben, als daß sie aus vergleichbaren Gründen etwa zur gleichen Zeit am selben Ort waren. Montiertes verdichtet sich zu einer Geschichte und verweist gleichzeitig auf viele. Ein Dokumentarfilm, der ein Leben nicht nur mit Intervieweinstellungen von der Portraitierten nachzeichnet, sondern auch mit Abbildungen Namenloser, scheint seine spezifische Aufgabe zu verweigern, Originales und Identifizierbares zu präsentieren.

Darin mag das Besondere dieses Films liegen, der alles gleichzeitig sein möchte – fragmentarische Rekonstruktion und lineare Geschichte. Daß dies stellenweise sehr kunstvoll gelingt, ist nicht zuletzt dem Schnitt (Heike Fischer) zu verdanken, der die Fragmente fließend ineinandergleiten läßt.

Lächerlich wirkt der Versuch, mit Spielfilm-Mitteln einen Plot zu konstruieren, wenn Steins zweite Deportation nach Sibirien mit einer Landkartenansicht eingeleitet wird, zu der aus dem Off eine illusionäre Eisenbahn heult. Zumeist jedoch disziplinieren sich Ton und Bild wechselseitig zu Sachlichkeit. Gebärdet sich der gesprochene Text der Dokumentation allzu romantisch, korrigieren nüchterne Kamerabilder die Geschwätzigkeit. Bilder von Minsker Wohnsilos oder vom Weihnachtsessen im Wohnzimmer, in dem der Fernseher neben den Adventskerzen flackert, lassen Steins Leben nicht zum fotogenen Roman werden.

Ilse Stein wollte nach Nidda zurückkehren, zurück in das Dorf, an dessen ehemaliger Synagoge heute eine Bronzetafel das Verschwinden der jüdischen Gemeinde geschichtsblind mit Auswanderung erklärt und den antisemitischen Terror verschweigt. Ilse Stein starb 1993 in Rostow am Don, in dem Jahr, in dem 8,5 Prozent der Bevölkerung in Nidda der NPD bei der Kommunalwahl ihre Stimme gaben. Birgit Glombitza

Die ARD zeigt um 23 Uhr eine 60minütige TV-Fassung des Films.