DDR-Aufarbeitung – polemisch und distanziert

■ In der letzten Anhörung der Enquete-Kommission stritten Bürgerrechtler und Wissenschaftler über die Mitverantwortung des Westens für die SED-Geschichte

Berlin (taz) – Mit einer „kleinen Polemik“ brachte der ehemalige DDR-Bürgerrechtler Jürgen Fuchs das akademische Podium in Schwung: „Noch sind wir ja da, wir Zeitgenossen, noch ein wenig Geduld muß aufgebracht werden bis zum Sezieren und letzten Einordnen, Bewerten und Entmachten – das zuckt ja noch und will sogar antworten, sprechen, etwas tun.“ Mit seinen drastischen Erinnerungen an die Zeitzeugen kritisierte Fuchs die wissenschaftlich-distanzierte Tonlage, die über zwei Tage hinweg die öffentliche Anhörung der Enquete-Kommission zur Aufarbeitung der SED-Vergangenheit bestimmt hatte. Fuchs markierte eher den existentiellen als den inhaltlichen Dissens zwischen den Bürgerrechtlern und den geladenen Experten, die sich überraschend schnell einigten. Da fanden sich Karl Dietrich Bracher und Jürgen Habermas beispielsweise ohne Mühen im „antitotalitären Konsens“, nur Nuancen trennten Jürgen Kocka und Horst Möller bei der Frage der Vergleichbarkeit – nicht Gleichsetzung – von Nationalsozialismus und DDR-Diktatur.

Doch Fuchs meinte in der konfliktfrei verlaufenden Anhörung das Bedürfnis nach allzu schneller, auch interessierter Historisierung zu verspüren. „Die Gewalt war früher, auf jeden Fall in der Vergangenheit.“ Nur deshalb könne heute so „laut und selbstsicher geredet werden“. – Wo ist die Theorie der Alltage der Menschen in Diktaturen?“ pointierte er die Frage der Kommission nach der Relevanz der Aufarbeitung für den künftigen Bestand der Demokratie. „Die Westdeutschen übernehmen nur zu gerne die Supervision über den Selbstverständigungsprozeß ihrer Brüder und Schwestern“, wandte Fuchs ein Habermas-Zitat gegen dessen Urheber. – Doch als Supervisor trat Habermas im Reichstag nicht auf. Er zeigte sich „beeindruckt von der Debatte mit den Bürgerrechtlern“, was nicht nach Rhetorik klang. Auf die Tonlage von Jürgen Fuchs wollte er sich dennoch nicht einlassen.

Doch gegen Fuchs' Befürchtung, die DDR-Vergangenheit werde bald routinierter Verdrängung zum Opfer fallen, setzte Habermas seine Überzeugung: „Verdrängung dissonanter Erinnerungen, selbst wenn sie funktional wäre, läßt sich nicht arrangieren.“ Mißliche Wahrheiten seien „schwer zu kontrollieren“ und könnten „jederzeit den Schleier eines illusionären Selbstverständnisses zerstören“. Habermas plädierte dafür, „Geschichte als kritische Instanz“ zu begreifen. Doch „unter der grellen Beleuchtung dieser zweiten Vergangenheit“ dürfe die „Erinnerung an die erste nicht verblassen“. Heute könne sich zum erstenmal ein „antitotalitärer Konsens“ bilden, der seinen Namen verdiene, weil er nicht mehr selektiv sei, je nach linker oder rechter Perspektive. Der heute mögliche Konsens könne vielmehr als Basis dienen, „auf der sich dann erst linke und rechte Positionen differenzieren“.

Während die Bürgerrechtler im Reichstag Rainer Lepsius' Auffassung heftig widersprachen, die Deutschen-West seien von der Aufarbeitung der SED-Diktatur „nicht existentiell betroffen“, betonte auch Habermas die „asymmetrische Verteilung der Erblasten“ und die Schwierigkeiten, die hieraus für die Aufarbeitung resultierten. Die einen seien als Täter oder Opfer „mit Haut und Haaren verstrickt“, die anderen „haben allenfalls von außen ... auf Verhältnisse und Entwicklungen in der DDR eingewirkt“. Deshalb könne auch die Aufarbeitung „nicht als ein bruchlos gesamtdeutsches Unternehmen definiert“ werden. Gerade weil die Bürger der ehemaligen DDR ihren „Selbstverständigungsdiskurs“ nicht im eigenen Haus führen könnten, sei vom Westen „besondere Zurückhaltung“ zu erwarten.

Insistent forderte Fuchs demgegenüber die Aufgabe der Zurückhaltung: „Andere sollen nicht von Ferne kommen als Supervisoren und Wissenschaftler. Sie sollen sagen, warum sie koexistiert haben.“ Habermas räumte ein, es habe „linke Einäugigkeiten“ gegeben. Nicht zu bestreiten sei jedoch, daß sich die linke Indentität im Westen gerade auch in der Auseinandersetzung mit dem Stalinismus gebildet habe. Wenn es Beschönigungen der DDR-Realität gegeben habe, so müsse man auch heute bereit sein, dies „im Kontext der innenpolitischen Auseinandersetzungen der Bundesrepublik“ zu interpretieren.

Jürgen Fuchs freilich wolte sich mit solcher Anregung nicht abfinden. Er habe kennengelernt, wie sehr der Westen an den Verhältnissen im Osten beteiligt war. Da könne es ein „elegantes Heraushalten nicht geben“. eis