„Die Situation hat sich verschärft“

■ Aktionstag der Behinderten / Interview mit Gerlef Gleiss, Mitarbeiter der Hamburger Beratungsstelle „Autonom Leben“ Von Sannah Koch

Fast 300.000 behinderte Menschen leben in der Hansestadt – doch sie bleiben fast gänzlich unsichtbar. Immer noch in Heimen isoliert, in Spezialeinrichtungen separiert, durch Barrieren wie Treppen, Bürgersteige und fehlende Aufzüge in ihrer Bewegungsfreiheit zusätzlich behindert, fühlen sie sich trotz aller schönen Worte zunehmend aus der Gesellschaft ausgegrenzt. Auf die „wachsende soziale Kälte“ machten gestern über 20 Hamburger Behindertenorganisationen aufmerksam. Auf einer Demonstration anläßlich des europaweiten Aktionstags für die Gleichstellung behinderter Menschen forderten sie außerdem ein Antidiskriminierungsgesetz.

Ihre Mängeliste an der Hamburger Senatspolitik: Fehlende Tagesförderstätten und Wohngruppenplätze für Schwerbehinderte, keine Arbeitnehmerrechte (Tariflohn, Mitbestimmung) in den Werkstätten für Behinderte, fehlende Integrationshilfen für den Arbeitsmarkt und für Regelschulen, unzureichende Nutzbarkeit des öffentlichen Nahverkehrs, sowie die geplanten Einsparungen im Bereich der Rehabilitation behinderter Menschen.

Über die Probleme in der Hansestadt befragte die taz Gerlef Gleiss, Mitarbeiter der Beratungsstelle Autonom Leben.

taz: Welches Problem ist für behinderte Menschen derzeit das drückendste?

Gerlef Gleiss: Für die meisten ist das die Situation in der stationären und häuslichen Pflege. Viele kommen nicht mehr vor die Tür, erhalten nur eine Notversorgung, weil einfach zu wenig Pflegepersonal da ist. Es werden wieder die drei klassischen „S“ praktiziert: Sauber, satt, sediert. Wohnungsnot und die mangelnde Integration in den Arbeitsmarkt oder in Regelschulen sind auch weiterhin ungelöste Probleme.

Hat sich die Situation Behinderter in den vergangenen zwei Jahren verbessert oder verschlechtert?

In den letzten Jahren hat sie sich eindeutig verschlechtert, schon wegen des gesellschaftlichen Klimas. Auch erleben wir jetzt die Sparmaßnahmen der Stadt Hamburg; da soll die Stelle des Behindertenbeauftragten gestrichen werden, bei der Eingliederungshilfe für Behinderte wird gespart, das Modellprojekt „Hamburger Arbeitsassistenz“ für geistig Behinderte droht Ende des Jahres eingestellt zu werden, und auch unseren Beratungsstellen kann das gleiche Schicksal wiederfahren.

Stichwort gesellschaftliches Klima: Das Thema Gewalt gegen Behinderte hat in der jüngsten Vergangenheit stark an Bedeutung gewonnen.

Das Klima in puncto Akzeptanz und Toleranz gegenüber behinderten Menschen hat sich sehr verschlechtert. Die Mitarbeiter von Behindertenwerkstätten und Sonderschulen erzählen uns, daß sich Behinderte nicht mehr auf die Straße trauen, weil sie immer häufiger angepöbelt werden. Die Situation hat sich wirklich verschärft.

Was sind die Ursachen?

Die Gewalt geht nicht nur von Rechtsradikalen aus, die sind eher in der Minderheit. Vielmehr spürt jeder, daß sich die Situation auf dem Arbeits- und Wohnungsmarkt, schlicht überall, verschärft hat. Auswirkungen zeigt aber auch die Fernsehberieselung, in der alte, kranke und behinderte Menschen überhaupt nicht vorkommen. Oder die verstärkte Diskussion über die Lebenswert-Frage, darüber, ob es moralisch zu rechtfertigen ist, behinderte Neugeborene zu töten. Das spüren wir alles.

Ihre wichtigste Forderung an den Hamburger Senat?

Die angekündigte Kürzung beim behindertengerechten Umbau von U-Bahnstationen muß rückgängig gemacht werden. Ganz dringend ist, daß der Behindertenbeauftragte bleibt und zwar mit mehr Kompetenzen als jetzt. Wir brauchen auch mehr Geld für die Integration in Regelschulen. Außerdem fehlt es gänzlich an Beratungsstellen für behinderte Mädchen und Frauen.