In Gedenken an die Dschungelwelt

Letztmalig: Die Westgruppe der russischen Streitkräfte begeht den „Tag der Befreiung“ am 8. Mai vor den Berliner Ehrenmalen / Desolater Zustand der Bauwerke, Zahn der Zeit und steter Tropfen haben ganze Arbeit geleistet  ■ Von Jörg Plath

Über dem wuchtigen linken Pfeiler bleibt das Auge hängen. Die Reihe der glatten Granitplatten ist dort unterbrochen, ein klaffendes Loch am sowjetischen Ehrenmal in Tiergarten gibt den Blick frei auf grauen Putz. „Die Platte ist uns fast runtergefallen“, erinnert sich Manfred Fromme. „Wir haben sie abnehmen müssen. Zu den Feierlichkeiten am 8. Mai werde ich sie wohl wieder anbringen lassen.“ Die trutzige Fassade muß stimmen zum „Tag der Befreiung vom Faschismus“, den die Westgruppe der russischen Streitkräfte am 8. Mai zum letzten Mal vor den Berliner Ehrenmalen begehen – Ende August ziehen die russischen Truppen ab. Den Jahrestag der Oktoberrevolution am 7. November werden sie schon in Rußland begehen – wenn überhaupt.

Bis dahin wird Manfred Fromme die lockere Granitplatte wohl längst wieder abgenommen haben. Der Architekt sorgt dafür, daß mit der russischen Armee nicht auch ihre Denkmale gehen. Er leitet die Restaurierung der drei großen ehemals sowjetischen Ehrenmale in Berlin. Denn so monumental-massiv die Anlagen in Treptow, Tiergarten und der Schönholzer Heide auch erscheinen, ihr baulicher Zustand ist ziemlich schlecht. Am meisten Sorgen macht dem Architekten eindringendes Wasser: „In Schönholz stehen auch die Begräbniskammern unter Wasser. Die dort zur letzten Ruhe Gebetteten liegen also im Wasser, oder sie schwimmen, wenn es noch intakte Holzsärge gibt.“

Mehr als 13.200 Rotarmisten, die bei den Kämpfen um Berlin im Frühjahr 1945 ums Leben kamen, sind in der Schönholzer Heide beigesetzt – meist wohl ohne Holzsarg. Das einstige Ausflugsziel der Berliner hatten die Nationalsozialisten in ein großes Zwangsarbeiterlager umgewandelt. An der streng symmetrischen Denkmalanlage, die 1947/49 entstanden ist (u.a. mit Materialien aus Hitlers Reichskanzlei), künden schon äußerlich offene Fugen, Kalkstalaktiten und Risse von der zerstörenden Kraft des Wassers.

Ein ähnliches Bild bietet in Treptow das größte Berliner Ehrenmal. Am riesigen steinernen Fahnentor, das den Blick der Besucher auf die Bronzestatue eines Rotarmisten in 500 Meter Entfernung ausrichtet, haben sich die Granitplatten gelockert und drohen herunterzufallen. Stehendes Wasser hat die großen Wegeplatten angehoben oder abgesenkt, die die fünf großen rechteckigen Rasenflächen säumen. Unter ihnen liegen 4.800 Gefallene begraben. Recht passabel sehen nur die 16 Kalksteinblöcke mit den großen Reliefdarstellungen aus, die die Wege begrenzen. Vielleicht haben ihre Stalin-Zitate diese Symbole der damals 16 Unionsrepubliken geschützt.

Wasserprobleme gibt es auch im Tiergarten, obwohl die zwei Wachhäuser 1967 abgerissen und neu errichtet und die ursprüngliche Travertinfassade durch Granitplatten ersetzt wurden. Sie sind nun teilweise mit der Hand abzunehmen, weil die gußeisernen Verankerungen durchgerostet sind. Sinn für Symbolik verrät die Wahl des Standortes. Das Ehrenmal steht mitten auf der Siegesallee, die Hitler und sein Generalbauinspekteur Albert Speer zu einer gigantischen Nord-Süd-Achse mit riesigen Prachtbauten ausbauen wollten. Nach der Aufteilung Berlins unter die vier Alliierten lag das Grundstück als sowjetische Enklave im britischen Sektor – für die Westberliner eine unwillkommene Bekräftigung des Viermächtestatus von Berlin. Die Soldatenstatue tauften sie den „unbekannten Plünderer“, bewacht von „sowjetischen Eindringlingen“. Sie versahen, so heißt es in Dolmatowskis „Ballade vom Vater und Sohn“, ihren Dienst im „Sektor einer fremden Dschungelwelt“.

An Konflikten zwischen beiden Welten fehlte es nicht. Nach dem Mauerbau legte die britische Armee Stacheldraht, um die Wachsoldaten zu schützen. Inzwischen müssen die Besucher vor dem Ehrenmal geschützt werden, das sie seit der Übergabe an die Deutschen Weihnachten 1990 erstmals betreten dürfen. Ein Gitter vor den Stufen verwehrt den Zutritt, weil die Behörden fürchten, eine Sturmböe könnte den Bronzesoldaten umfallen lassen. Eine Laterne ist dem letzten Frühjahrssturm schon zum Opfer gefallen, die anderen wackeln vor sich hin.

Erste Sicherungsmaßnahmen hat der verantwortliche Denkmalschützer Klaus von Krosigk zwar schon ergriffen. Doch die seit 1991 verbauten 2,5 Millionen Mark reichten nur für die dringlichsten Arbeiten. Etwa 16 Millionen Mark, schätzt der Leiter des Referats Gartendenkmalpflege, wird die Sanierung insgesamt kosten. Wenn das Bundesinnenministerium wie bisher jedes Jahr eine Million gibt, dürften sich die Arbeiten über das Jahr 2000 hinaus hinziehen. Juristisch ist die Bundesrepublik zur Sanierung der Ehrenmale verpflichtet, weil in ihnen Soldaten bestattet sind, weil sie von der DDR unter Denkmalschutz gestellt worden sind und der deutsch-sowjetische Freundschaftsvertrag entsprechende Passagen enthält. Aber das allein wäre dem zuständigen Denkmalschützer Klaus von Krosigk zu wenig: „Wir müssen an die Schreckensherrschaft während der Nazizeit und an die Alliierten erinnern, und dazu gehören nun einmal die Russen, die im April 1945 Berlin von dem Naziterror befreit haben.“

Das Engagement, mit dem Klaus von Krosigk sein Plädoyer vorträgt, verrät, daß es Widerstand gegeben hat. In einem BZ-Interview forderte zum Beispiel der CDU-Rechtsaußen Heinrich Lummer vor zwei Jahren, die Ehrenmale abzureißen. Denn „nachdem die Sowjetunion nicht mehr existiert, haben auch diese steinernen Zeugen der Vergangenheit hier nichts mehr zu suchen“. Für Lummer gehören die an den Zweiten Weltkrieg und seine Opfer erinnernden Ehrenmale also zur sowjetischen, nicht etwa zur deutschen Geschichte ...

Es sind wohl solche Vorbehalte aus der Zeit des Kalten Krieges, denen Klaus von Krosigk mit einem pädagogischen Konzept begegnen will. Im östlichen Wachgebäude am Tiergarten soll noch in diesem Jahr, spätestens aber im nächsten eine zentrale Ausstellung über die drei Berliner Ehrenmale eingerichtet werden. Vielleicht erklingt dann dort die „Ballade vom Vater und Sohn“ und unterrichtet die Besucher über die Zeit, als ein junger sowjetischer Soldat Wache am Grab seines Vaters hielt und Berlin in Sektoren unterteilt war, in die der Zivilisation und die des Dschungels.