Vertauschte Rollen, gleiche Positionen

■ Aus Zürich kommt Jens-Daniel Herzogs „Oleanna“ – eine Möglichkeit zum Vergleich mit Johanna Schalls Inszenierung im Repertoire des Deutschen Theaters

Carol wippt den Oberköper vor und zurück. Ihre Füße sind unterm Stuhl verschraubt. Die Hände umkrampfen die Tasche. Ihre Augen finden keinen Halt. Sie ist außer sich und doch nirgendwo anders. Wer sich so in die Enge getrieben fühlt, ist gefährlich. John ist zu selbstsicher, um das zu beachten. Er lümmelt im Sessel, springt auf den Schreibtisch und fährt beim Reden Arme und Hände durch die Luft wie ein Fechter. Carol ist Studentin, John ihr Professor. Die Seminararbeit hat sie verhauen. Jetzt ist sie gekommen, um nach ihrer Note zu fragen.

Das karge Büro, das Andreas Herrmann auf einer schrägen Kreisfläche mit Tisch, Stühlen und Bücherstapeln eingerichtet hat, wird zum Schauplatz eines zunächst unbewußten Machtkampfes zwischen Mann und Frau und der Unmöglichkeit einer Begegnung. Am Ende, wenn Carol, mit der Hilfe einer ominösen Gruppe, Sicherheit gewonnen, John des Sexismus, der Pflichtverletzung und der versuchten Vergewaltigung angeklagt hat, wenn dessen Traum von Karriere und Eigenheim zerplatzt ist, wenn die Studentin den Professor zur öffentlichen Selbstbezichtigung nötigt, wird er mit schmerzverzerrtem Gesicht und erhobener Faust dasitzen und sie ihren missionarisch selbstgewissen Blick ins Publikum richten. Die Rollen sind vertauscht, die Positionen bleiben dieselben.

David Mamet, der in New York lebt und seit gut zwanzig Jahren Theaterstücke schreibt, hat ein Talent, alte Stoffe mit aktuellem Flitter neu zu stylen. Das testete er bei seinem Makler-Reißer „Hanglage Meerblick“ mit großem Erfolg. „Oleanna“, das seinen Titel einem Country-Song verdankt, segelt auf den Wogen der in den USA hochschäumenden Diskussion um „political correctness“. Es zeigt, wie sich diese selbst zum Dogma verkehrt und zum Treibstoff einer neuen Hexenjagd wird.

Dies hat Mamet u.a. den Vorwurf eingebracht, den Antifeminismus zu schüren. Dies hat Solidarisierung unter Männern und erbitterten Streit unter Paaren ausgelöst. Und das Stück wurde, gleich ob in London (Regie: Harold Pinter), Wien (Regie: Dieter Giesing) oder in den zahlreichen anderen europäischen Städten, in denen das Stück seit seiner New Yorker Uraufführung durch den Autor gespielt wird, ein Erfolg. Selbst im unterkühlten Zürich sind die Vorstellungen auf Wochen ausverkauft.

Die Inszenierung Jens-Daniel Herzogs verzichtet in ihrer überragenden ersten Hälfte auf jede vorschnelle Parteinahme. Die lange Exposition des ersten von drei Akten nutzt der Regisseur zu einer subtilen Studie über eine Interaktion, die an Hilflosigkeit und Unbeholfenheit mindestens so sehr scheitert wie an der Unterschiedlichkeit von Macht und Kompetenz. Leslie Maltons Carol ist verzweifelt, wütend, voller Angst und Ansprüche. Panisch notiert sie jedes Wort des Lehrers. Sobald John aber etwas notiert, fragt sie ihn in hartem Ton, ob es etwa ihre Aussagen seien. Edgar Selge ist der selbstsichere und fast bis zum Ende beherrschte Mann, der davon überzeugt ist, es geschafft zu haben. Er gibt sich jovial, zeigt Verständnis und bietet Hilfe an. Und er kreist eigentlich nur um sich selbst. Wenn Carol sich dumm und jämmerlich fühlt, erzählt er von seinen eigenen Jugendängsten. Wenn sie sein Buch nicht versteht, nimmt er die Schuld auf sich. Wenn sie zu reden beginnt, unterbricht er sie, bis sie verstummt und er sie erneut auffordern kann.

Die Macht, die Anbiederung, die Arroganz, die John ausübt, zeigt Edgar Selge sehr verhalten, unaufdringlich. Und konsequent trumpft Carol in der zweiten Hälfte des Abends auf, bis hin zu dem stalinistisch anmutenden Gesinnungsterror, der Lektürelisten verbieten will und eine öffentliche Selbstkritik fordert. Dann ist das „PC“-Thema längst in den Vordergrund getreten und relativiert die Empörung des Publikums über ungerechtfertigte Anschuldigungen wegen angeblicher sexueller Belästigung, die ja tatsächlich nur ein schulterklopfender Trost ist.

Die Leistung dieser Inszenierung ist es, daß sie in den Klischees eines Broadway-Hits Ernstzunehmendes entdeckt. „Oleanna“ ist vor allem ein Stück über die Verzweiflung und die Wut einer Generation, die im Reagan-Jahrzehnt mit den alten Tellerwäscher-Phantasien vom Aufstieg und vom großen Geld erzogen wurde. Kein Argument trägt Leslie Malton in Zürich so drängend vor wie dasjenige, sie habe hart gearbeitet. Das verdiene Anerkennung und Achtung. Der Dozent, der ihren Aufsatz zerreißt, weil er bereit ist, mit ihr den Kurs noch einmal zu beginnen, der Buchautor, der über den klassischen Bildungsweg schimpft, der Angestellte, der den Staat bespöttelt, der ihm die Miete bezahlt, demütigt nicht nur die kleine Studentin, sobald er die Macht beansprucht, jede Regel außer Kraft zu setzen, an die sie sich halten muß. Weit schmerzhafter ist, daß er ihr den Boden entzieht, auf dem sie verzweifelt zu stehen versucht, daß er ihr das Gefühl nimmt, die eigene Zukunft gestalten zu können. Carol sucht Orientierung fürs Leben. Sie bräuchte ein Vorbild. Der Professor spielt mit seinen eitlen und wohlfeilen Skeptizismen. Daß er die Lebenschancen der nächsten Generation nicht ernst nimmt, daß er seine Verantwortung nicht erkennt, ist die eigentliche Tragik dieses Abends. Gerhard Mack

Aufführungen von „Oleanna“ vom 6.–8.5., 19.30 Uhr, Deutsches Theater, Kammerspiele, Schumannstraße 13a.