Schminkunfall mit Kettenreaktion

Keine Kulissenstürmerei, sondern begabter Realismus: Das Mecklenburgische Staatstheater wurde mit der „Othello“-Inszenierung des jungen Oberspielleiters Michael Jurgons eingeladen  ■ Von Jörg Mihan

Überall in Schwerin sind über die Straßen Fahnen gespannt mit der Aufschrift SHAKESPEARE – Hinweise auf das umfängliche Projekt des Mecklenburgischen Staatstheaters mit „Hamlet“, „Richard III.“, „Macbeth“ und „Othello“. Letzteres, vom jungen Oberspielleiter Michael Jurgons inszeniert, ist zum Theatertreffen eingeladen worden. Die Schweriner werden sich darüber freuen, die Inszenierung wurde im letzten Jahr mehr als zwanzigmal erfolgreich gezeigt, aber im Grunde ist nichts allzu Spektakuläres zu sehen. Auch nichts von dem, was man sich im Klischee unter Jungem Theater vorstellen mag. Keine Anarchie, keine Exzesse, keine Textzertrümmerung. Es geht ganz seriös und solide zu, sieht man von einigen schüchternen Konzessionen an die „wilde“ Richtung ab.

Michael Jurgons, der am Ostberliner Regieinstitut studierte und am Deutschen Theater inszenierte, ehe er nach Schwerin kam, setzt auf das Stück und seine Schauspieler. In Zadek-Manier läßt er die Akteure in lässigen Arrangements drauflosspielen und verhilft ihnen zu großen Szenen. Es schert ihn wenig, daß er dabei das Talentgefälle offenbart. Drive and Action sind ihm wichtig. Groß ist die Kluft zwischen „dramatischen“ (Othello, Desdemona, Cassio) und „epischen“ (Jago, Emilia, Clown) Darstellern, zwischen „Zustands“- und „Vorgangs“-Spielern. Jurgons' Ausstatterin (Änn Schwerdtle) kleidet die Personen in die Uniformen moderner Macht- und Militärkasten und deren Helfershelfer.

„Der Mohr hat seine Schuldigkeit getan, der Mohr kann gehen.“ Dieser Satz fällt natürlich in Horst Laubes flüssig-salopper Übersetzung nicht, weil er von Schiller ist, aber er kann als Grundmotiv für das wüste Geschehen stehen. Ein „Gastarbeiter“, ein Spezialist, wird geheuert, um die Kastanien aus dem Feuer zu holen. Der Ausländer darf sich alles herausnehmen, auch die Frau seiner Wahl, die zudem noch auf ihn fliegt. Er kann sich in Sicherheit wähnen, seinen Erfolg feiern, seine Eitelkeiten pflegen und sich angenommen fühlen, denn er ist doch wer und kann doch was, bis man ihn sich selbst in seiner Eifersucht unmöglich machen läßt. Der einfache Tatbestand, daß ein anderer, ein Einheimischer, auf dieselbe Dame scharf ist und sich einen Agenten sucht, den er auf den Rivalen ansetzt, bringt die „verkehrte“ Welt bei Shakespeare bekanntermaßen letztendlich mit viel männlichem Intrigengeist wieder ins Lot.

Im Stück wie im Spiel haben die „verbogenen“ Männer zwar den Hauptpart, aber sie werden von den „geraden“, dabei geschmeidigen Frauen kontrastiert, die ihnen an Selbstgewißheit, Gefühl, Gespür und Einsicht meilenweit voraus sind, obwohl sie an ihren Fersen haften und an und mit ihnen zugrunde gehen. Vor allem Emilia, Jagos Frau (Brigitte Peters), ist dabei hervorzuheben, die das verhängnisvolle Männerwerk am Ende mit Zivilcourage entlarvt, ergänzt von der an den geliebten Cassio verfallenen Hure Bianca (Simone Cohn-Vossen) und der bis zur Selbstaufgabe integren, natürlichen, liebes- und verzeihensfähigen Desdemona (Nadja Schulz).

Ein virtuoser Darsteller spielt den Jago (Thorsten Merten), eine unscheinbare, kleine, quicke, sympathische „niedere Charge“, den geborenen „Freund und Helfer“ mit Rezepten für alle Lebenslagen, einen, der sich um die Drecksarbeit reißt, sich reckt und duckt je nach Vorteil, Unheil stiftet und Lust hat, die „besseren Leute“ aufzumischen, wenn er einen Krümel vom Kuchen erhaschen kann. Ein unbeherrschter, exaltierter, eitler und sich in nichts als Kriegsgeschäften auskennender Schwarzer von Charisma, Libido und schwärmerischer Empfindung ist Othello (Dirk Glodde). Er verwandelt sich vom betreßten Friedenshelden mit Staatslimousine in das blutrünstige „Urwaldtier“ zurück, das in Ermangelung eines Baumes den Kühlschrank erklimmt.

Ein ebenso eitler, narzißtischer, hübscher Fant von Cassio (Marco Albrecht), eine Spielernatur, darf Othello im Amt beerben. Roderigo, der Auslöser des Ganzen (Thomas Zieler), ist blaß gegen seinen hitzigen Nebenbuhler, eine anmaßende Null mit Rückhalt in der High Society. Er gibt schon während des Manövers auf und muß von Jago angeheizt werden. Bei ihm hätte sich Desdemona schließlich zu Tode gelangweilt, zugestandenermaßen auch eine Katastrophe. Der tiefschwarze Othello beschmiert jeden, den er berührt, er „färbt ab“ auf die, die mit ihm umgehen. Wäre das nicht bloß ein Schminkunfall mit Kettenreaktion, dann hätten diese von ihm Gezeichneten oder Befleckten, sofern sie überlebten, zu tun, sich wieder „reinzuwaschen“ oder das Stigma mit Würde wirken zu lassen.

Techno-Klänge, Aktenkoffer und Funktelefone, ein trostloses Militärcamp-Ambiente, rüde Söldner-Statisterie und eine Filmschnitt-Manier bringen Zeitgeist auf die Bühne, sind aber eigentlich keine dominanten Merkmale dieser Inszenierung. Ebensowenig gelegentliche Gags, wie wenn Othello eben im weißen Mercedes vorfährt oder Jago eine Kopfwäsche im gelben Plasteeimer erhält. Hier wird einfach eine spannende Geschichte in plausibler Lesart mit einigen guten, jungen Schauspielern rhythmisch gezeigt. Begabter Realismus. Ob das aber dem gegenwärtigen Höchststand von Theaterkunst im Lande entspricht (den jährlich zu ermitteln zu haben sich die Theatertreffenjury doch rühmt), muß sich in Berlin und in unmittelbarer Konkurrenz zu anderen jungen Theaterleuten zeigen.

Aufführungen von „Othello“ vom 11. bis 13. 5., 19.30 Uhr, Berliner Ensemble, Bertolt-Brecht-Platz 1