Blinde Liebe und liebe Blinde

Lohnender Blick auf den Nachwuchs: Junge Schauspieler in Inszenierungen vom Düsseldorfer Schauspielhaus und dem Schauspiel Bochum  ■ Von Gerhard Preußer

„Wow“, staunt Julia, als sie erfährt, sie soll mit Graf Paris verheiratet werden. „Wow, echt?“ fragt Julia, als Romeo ihr eröffnet, er werde sterben, falls sie ihn nicht liebe. Dieses Mädchen ist überfordert. Die Mutter wischt ihr den verschmierten Mund mit dem Rockzipfel ab, der Vater wirft sich bäuchlings auf sie, als sie ihm zu widersprechen wagt. Die Liebe zu Romeo holt sie aus ihrem Kinderdasein heraus, doch die Befreiung von den Eltern gelingt nur halb.

Karin Beier kennt vor allem Julias Nöte. Romeo und seine Welt der Schlägertruppe sind Anlaß für wirkungsvoll stilisierte Rituale, das eigentliche Drama jedoch ist der Kampf der Frau um ihre Selbständigkeit. Wenn es um weibliche Authentizität geht, muß Julia eine Debütantin sein. Von der Schauspielschule weg engagiert, gelingt Caroline Ebner fast alles: Kindertrotz, sexuelle Neugier, flapsige Sentimentalität, wilde Ausbrüche.

Vor ihrer Arbeit in Düsseldorf war Karin Beier in der Kölner freien Szene bekannt für ihren kreativen Umgang mit ungewöhnlichen Spielräumen. Als erste Düsseldorfer Arbeit inszenierte sie Taboris „25. Stunde“ in einer abrißreifen Fabrikhalle, jetzt gewann sie dem Großen Haus des Schauspielhauses neue Wirkungen ab. Plötzlich klappen die Deckenplatten des von Florian Etti entworfenen flachen Bühnenkastens nach oben, und die häusliche Szene weitet sich zum Straßenkampfplatz und Liebeshimmel. Dort schwebt das Liebespaar, balanciert auf Trapezen über dem Abgrund und lispelt das Liebesgeflüster der Balkonszene: Julia: „Ach Scheiße.“ – Romeo: „Oh, sie spricht.“ Frank Günthers freie Übersetzung wird frei ergänzt. Vor keiner Albernheit macht die Inszenierung halt: Capulet und Montague kämpfen mit Pantoffeln, 20 Köche turnen über die Bühne, Lady Capulet rast mit dem Staubsauger hinterher. Graf Paris singt „Julia, der Lenz ist da“ und schenkt ihr zur Hochzeit einen springenden Blechfrosch. Bis zum Schluß bleibt die Tragödie komisch. Wenn Romeo sich umbringt, ist das keine schwüle Todessehnsucht, sondern ein Dummerjungenstreich, den er bereut, solange er noch kann. „Du süßer kleiner Romeo“ nölt Udo Lindenberg aus dem Lautsprecher dazu. Der Liebes-Heldentod gebührt allein Julia, der Frau.

Als zweite Inszenierung aus Nordrhein-Westfalen wurde eine Produktion des Schauspielhauses Bochum nach Berlin eingeladen, eine Arbeit mit Schauspielschülern. Fröhliche junge Menschen im heiteren Gespräch, Studentenidylle zu Semesterbeginn. Nur eines fehlt: der Blick. Die Zuwendungen bleiben ungenau oder werden allzu direkt. Die Glücklichen sind blind. In Don Pablos Blindenlehranstalt herrscht „eiserne Zuversicht“. „Blinde“ gibt es hier nicht, nur „Nicht-Sehende“, der Defekt soll durch den Austausch der Worte zur Normalität erklärt werden. In diese schöne neue Welt bricht das Unheil ein: Ignacio, ein „Nicht-Sehender“, der darauf beharrt, ein „armer Blinder“ zu sein. Als eine Art „irrer Messias“ will er den „Fröhlichkeitswahn“ seiner Kommilitonen heilen, will sie erlösen zum Leiden. Carlos, sein Widerpart, der lebenstüchtige Pragmatiker, bringt ihn schließlich um, weil er die Existenz des Institutes und die Zufriedenheit der Studenten gefährdet. Die Tat wird als Unfall vertuscht, und die Seelenfrieden stiftende Selbsttäuschung könnte wieder gepflegt werden. Doch der Mörder, der mordet, um das Glück zu erhalten, kann nicht glücklich bleiben. Nun sehnt Carlos sich nach dem Licht der Sterne wie zuvor sein Opfer Ignacio, der Märtyrer der absurden Hoffnung auf das Licht.

Blindheit ist hier vor allem Metapher. Die pessimistische Anthropologie; die Polemik gegen das Glücksversprechen totalitärer Staaten; das Beharren auf der Unerlöstheit des Menschen und die Verweigerung irgendwelcher Erlösungsversprechen – das sind Positionen, die 1946, zur Entstehungszeit des Stückes, in Mode waren, heute jedoch diese Kriminalschmonzette mit tieferer Bedeutung noch nicht interessant machen. Kühn ist weniger die Metapher als die Anforderung an die Schauspieler. Blinde unter sich zu spielen zwingt zur Reflexion der Grundlagen des Schauspiels. Aufführungswürdig ist das Stück durch die schauspielerische Aufgabe, die es stellt, sehenswert macht die Bochumer Aufführung, wie diese Aufgabe bewältigt wird. Sieben Schauspielerschüler der Westfälischen Schauspielschule Bochum spielen die Studentengruppe in der Regie von Karsten Schiffler mit erstaunlicher Konzentration und Präzision. Eine Liebesszene zwischen Ignacio (Alexander Simon) und Juana (Elina Benecke) wird zur Studie über Wunder und Not der Begegnung durch Berührung, die redselige, pathetische Abrechnung zwischen Carlos (Thomas Hilmar Loibl) und Ignacio wird zu einer fast regungslosen, weil ohne optische Einschüchterung des Gegners auskommenden, aber dennoch körperlichen Konfrontation. Wie Blindheit die Wahrnehmungsfähigkeit der anderen Sinne erst voll ausschöpft, so hat die Aufgabe ihrer Darstellung die Fähigkeiten der jungen Schauspieler voll entfaltet.

„Romeo und Julia“ am 9./10.5., 19.30 Uhr, Schiller Theater, Bismarckstraße 110; „Brennende Finsternis“ am 13./14.5., 19.30 Uhr, Theater am Halleschen Ufer, Hallesches Ufer 32.