„Das Zündeln war ein deutlicher Hilferuf“

■ Brandstifterin, die zwanzigmal Feuer legte, erhielt Bewährungsstrafe / Motiv: einsam, arm und depressiv

Keine Arbeit, kein Geld, Angst vor den Behörden, Einsamkeit und eine schwere Depression: das sind die wesentliche Gründe dafür, warum die 30jährige Annette B. aus Friedrichshain im vergangenen Spätsommer zur Serienbrandstifterin wurde. In schlaflosen Nächten flüchtete sie aus ihrer Einzimmerwohnung in die Kneipe und schritt auf dem Heimweg reichlich alkoholisiert in den Kellern der Nachbarhäuser zur Tat. Mit ihrem Feuerzeug und alten Zeitungen steckte sie mindestens 20mal Sperrmüll, Kleidungsstücke, Mülltüten und Möbel an, bis sie die Polizei in flagranti ertappte.

Gestern wurde die geschiedene Frau und Mutter zweier Kinder zu zwei Jahren Haft auf Bewährung verurteilt. Eine Unterbringung der Angeklagten in einem psychiatrischen Krankenhaus setzte das Gericht aus, weil Annette B. in eine betreute Wohngemeinschaft ziehen wird. Eine Erklärung für ihr Handeln abzugeben fiel der Ostberlinerin gestern sehr schwer. Stockend kamen ihr in Berliner Dialekt die Worte über die Lippen. „Ich wollte auf meine Probleme aufmerksam machen.“ Sie habe aber niemals Menschen verletzen wollen.

Eine Pyromanin, die sich nach der Tat aus der Distanz an den Bränden und der Hektik der Anwohner und Feuerwehrleute weidete, ist Annette B. jedoch nicht. „Sie wollte, daß sich jemand darüber ärgert, daß sie etwas kaputtgemacht hat“, erklärte eine Ärztin der Psychiatrie gestern, die die Angeklagte zusammen mit einem Kollegen auf deren Schuldfähigkeit hin untersucht hatte. „Das Zündeln war ein deutlicher Hilferuf.“ Schon als Kind sei die in Leipzig geborene und bei ihrer Oma aufgewachsene Annette B. immer eine Einzelgängerin gewesen. Von ihrer Mutter habe sie sich nie richtig geliebt gefühlt. Nach einer abgebrochenen Krankenschwesterausbildung brachte sie als 18jährige ihr erstes Kind zur Welt. Das Leben als alleinerziehende Mutter machte ihr jedoch sehr zu schaffen. Im Alter von 22 Jahren bekam sie von einem anderen Mann, den sie auch heiratete, das zweite Kind. Das erste Kind lebte mittlerweile bei den Großeltern. Doch auch beim zweiten Mal kam Annette B. mit ihrer Rolle als Mutter nicht klar. Wenn sie den Kinderwagen über die Baustellen in Hellersdorf schob, fühlte sie sich so einsam, daß sie gegen den Willen ihres Mannes als Nachtschichtverkäuferin in einer Betriebskantine arbeitete. Die Ehe zerbrach bald darauf; der Mann bekam das Sorgerecht.

1993 machte die Kantine Pleite, und Annette B. wurde arbeitslos. „Sie lebte von ihrem ersparten Geld, auf das Arbeits- oder Sozialamt zu gehen war für sie nie eine Möglichkeit“, sagte die psychiatrische Ärztin gestern. „Sie war neidisch auf die anderen, denen es ihrer Meinung nach besser ging.“ Daß Annette B. just zu einem Zeitpunkt als Brandstifterin festgenommen wurde, als ihr Erspartes zur Neige ging, hielt die Ärztin für keinen Zufall. Dies sei für die Frau die einzige Möglichkeit gewesen, ihre Probleme zu lösen.

Annette B. wurde geholfen. In der Untersuchungshaftsanstalt nahm die Straffälligenberatungsstelle „Freie Hilfe“ Kontakt mit ihr auf und besorgte ihr einen Platz in einer betreuten Wohngemeinschaft. Die psychiatrische Ärztin bescheinigte der Angeklagten gestern, daß sie gelernt habe, ihre Probleme in Angriff zu nehmen, und deshalb keine Wiederholungsgefahr bestünde. Bevor die Richter sich gestern zur Beratung zurückzogen, ergriff Annette B. selbst noch einmal das Wort: „Ich habe früher immer gedacht, ich muß allein klarkommen.“ Sie habe überhaupt kein Zutrauen zu Arbeitsamt und Sozialamt gehabt. „Ich hörte, man muß lange warten und wird wie ein Bittsteller behandelt, das hat mich abgeschreckt.“

Mit solchen Befürchtungen ist Annette B. kein Einzelfall. Aus Scham und Unwissenheit verzichten mehr als 10.000 OstberlinerInnen nach Schätzung des Senats darauf, Sozialhilfe zu beantragen. Plutonia Plarre