Der kurze Sommer der Antimafia

Von „Mani pulite“ bis zum Prozeß gegen die „Cupola“: Im Zeichen der „Wende“ weicht der Kampf gegen Dunkelmännerzirkel auf / Erste Herausforderungen durch Mafiabosse eingelaufen  ■ Aus Palermo Werner Raith

Es zieht in Palermos Palazzo delle Aquile, dem Sitz des Bürgermeisters. Zum einen rührt der Zugwind vom großen Portal, dessen mächtiges Barocktor der seit Ende vorigen Jahres mit 75 Prozent der Stimmen herrschende Bürgermeister Leoluca Orlando wieder zur Gänze hat öffnen lassen: Jahrzehntelang hatte nur eine kleine, zum Bücken zwingende Pforte den Zugang zur Kommunalverwaltung gestattet, das aus Angst vor Attentaten eingebaut worden war. „Bürger müssen zum Bürgermeister können“, hatte Orlando bei seinem Einzug in den Palazzo verkündet und die Totalöffnung verfügt. Er wolte zum „Anfassen“ sein – wie schon 1985 bis 1991, als er erstmals die Geschicke der Stadt leitete und zum Antimafia-Helden wurde.

Doch der Wind bläst nicht nur wegen der ausladenden Tür und der unvermittelt hereingebrochenen arktischen Festlandsluft so ungemütlich in den Adlerpalast. Er symbolisiert auch die „politische Wirklichkeit“: Schmählich ist die Bewegung „la Rete“ untergegangen, die Orlando zusammen mit anderen Kämpfern gegen Korruption und Kriminalität aufgebaut hat: Mit 1,9 Prozent haben sie die Vierprozentklausel bei den Parlamentswahlen weit verfehlt, in ganz Sizilien bekam die Gruppierung weniger Stimmen als Orlando bei den Bürgermeisterwahlen in Palermo.

Orlando und den Seinen ist klar, daß Verlierer in Italien eine Menge zu fürchten haben. Insbesondere wenn sie sich mit jenem krakenhaften System angelegt haben, das die Stadt und die Insel, sogar – so der frühere Innenminister Gava – den ganzen Süden Italiens und damit ein Drittel des nationalen Territoriums im Würgegriff hat: Mafia auf Sizilien, Ndrangheta in Kalabrien, Camorra in der Campania, Sacra corona unita in Apulien. Sogar die norditalienischen Mitstreiter von „la Rete“ wissen nach dem Wahl- Mißerfolg, was ihnen droht. Denn sie gehörten zu den Kämpfern der vordersten Front gegen die „Schmiergeldrepublik“ mit dem italienischen Namen „Tangentopoli“ (von tangente = Abgabe, Schmiergeld).

Nando Dalla Chiesa, Professor in Mailand und Sohn des 1982 ermordeten Präfekten und Generals Carlo Alberto Dalla Chiesa, bekommt das hautnah zu spüren: Noch im vorigen Sommer bei den Wahlen zum Bürgermeister hatte er immerhin 44 Prozent der Stimmen erhalten und war lediglich an dem Gegenkandidaten der kaum zu schlagenden sezessionistischen „Ligen“ gescheitert. Heute kräht kein Hahn mehr nach ihm – das absolut sicher geglaubte Abgeordnetenmandat auf der Liste des „Bündnisses der Fortschrittlichen“ hat er deutlich verfehlt. Ähnlich ins Abseits geschoben ist der Ex- Bürgermeister der Fiat-Stadt Turin in Piemont, Diego Novelli.

Frauen und Männer, die sich noch vor kurzem auf breite Zustimmung wegen ihres Kampfes gegen Dunkelmänner und Geheimzirkel, Mauschelgruppen und internationale Schieber verlassen konnten, sehen sich heute fast so in die Ecke gedrängt, als ob sie die Bösewichte wären.

Was noch vor wenigen Wochen undenkbar schien, nimmt immer mehr Gestalt an: Die Auswirkungen der „Wende“ durch den Sieg des Rechtsbündnisses bei den Parlamentswahlen Ende März greifen auch auf Bereiche über, die in den vergangenen beiden Jahren zu einer Art „Markenzeichen“ italienischer Selbstreinigung geworden waren. Vorbei scheinen die Zeiten mutiger Angriffe der Justiz auf Dunkelmännertum und subversive Zirkel, in die Defensive gedrängt der mühsam aufgebaute Kampf gegen Mafia und andere organisierte Verbrechergruppen, Schluß auch mit den Versuchen, die Schmiergeldskandale bis in die letzten Winkel zu durchleuchten.

Offen fordern die vom neuen starken Mann der Politik, Silvio Berlusconi, ausgeguckten künftigen Minister, Staatssekretäre und Kommisionspräsidenten ein Ende der Ermittlungskommission „Mani pulite“. Selbst die Frage, ob es weiterhin – wie in den letzten dreißig Jahren – eine parlamentarische Untersuchungskommission zur Analyse des organisierten Verbrechens und zur Empfehlung adäquater Maßnahmen geben soll, möchten die neuen Machthaber „offenhalten“. Im Klartext: Wenn so etwas schon eingerichtet wird, dann an der kurzen Leine und nicht so umfassend, wie unter ihrem letzten Präsidenten Luciano Violante: Als schlagkräftiges Instrument nicht nur gegen die Mafia im engeren Sinn, sondern auch gegen alle mit ihr verfilzten Dunkelmännerzirkel, etwa die stets gefährlichen Geheimlogen oder Zirkel von Abweichlern der Geheimdienste. Und: Violante hatte auch dafür gesorgt, daß die Verbindungen zur „hohen Politik“ ebenso wie die mit der Mafia kungelnden Großindustriellen des Nordens bei den Ermittlungen nicht außen vor blieben. Dabei war er auch Silvio Berlusconis Imperium einige Male sehr nahegekommen – und das soll sich nicht wiederholen.

Und so erlebt Violante derzeit am eigenen Leib, was es heute heißt, auf der „Verliererseite“ zu stehen: Nicht nur, daß man ihn wenige Tage vor der Wahl mit Hilfe eines gefälschten Interviews zum Rücktritt gezwungen hat; jetzt geht es regelrecht um seine bürgerliche Existenz. Zwar wurde der 51jährige Untersuchungsrichter zum viertenmal ins Parlament gewählt, und das mit einem ansehnlichen Vorsprung vor den Konkurrenten. Doch kaum war er gewählt, startete ein Geschäftsmann in der Turiner Straße, in der Violante und seine Familie wohnen, eine Unterschriftensammlung. Stoßrichtung: Dem Abgeordneten Violante möge das Appartement gekündigt werden, da er wohl bald Ziel von Racheattentaten der Mafia sein würde, und man da nicht mitverletzt werden möchte.

Die Prognose ist keineswegs weit hergeholt: Da ist einer gestürzt worden, und wer in Italien stürzt, ist isoliert; wer aber isoliert ist, so die Faustregel, wird auch physisch schnell zum Opfer jener, denen er früher zugesetzt hat. Die Untersuchungsrichter Falcone und Borsellino haben just diese Isolierung ebenso beklagt wie zehn Jahre zuvor der Antimafiapräfekt Carlo Alberto Dalla Chiesa – alle drei wurden kurz danach Opfer von Attentaten.

Dabei kommen die Angriffe gegen die Antimafiakämpfer heute keineswegs nur von den üblichen „interessierten“ Kreisen der organisierten Kriminalität oder auch der Filzokratie, sondern auch aus der Ecke, die bisher fest zum Kampf gegen Korruption und Parteienfilz, gegen Mafia und alles dominierende Unternehmerküngel gestanden hatte. Das Interview, das die Isolierung Violantes einläutete, erschien in der Zeitung la Stampa, die nicht nur in seinem Wahlkreis erscheint, sondern deren fähige Journalisten einige der besten Enthüllungen über die Mafia publiziert hatten.

Auch bei Bürgermeister Orlando kommen die massivsten Breitseiten von ehemaligen Steigbügelhaltern – in seinem Fall sind das Jesuiten. Schon vor zwei Jahren, als Orlando „la Rete“ gründete, nachdem ihn seine damalige Partei, die „Democrazia cristiana“ vom Bürgermeisteramt gestürzt hatte, trennte sich sein Vordenker, Padre Bartolomeo Sorge, von ihm. Anfang April sorgte auch noch Ennio Piuntacuda, ebenfalls Jesuit aus dem „Centro di studi sociali Pedro Arrupe“ in Palermo, für einen Eklat. Piuntacuda hatte sich einst so energisch vor den Linkskatholiken Orlando gestellt, daß ihm selbst die Lehrbefugnis im Orden entzogen wurde. „La Rete“, erklärt Piuntacuda nun, „hat ihre Zeit hinter sich. Wenn Orlando noch etwas tun will, kann er eine neue Formation gründen, etwa nach dem Muster der amerikanischen „Demokratischen Partei“. Aber sehr überzeugend klang dies auch nicht mehr. Orlando gelobte, dem Ratschlag zu folgen – aber als er bei seinen Getreuen nachfragte, wer mitmachen wolle, hörte er unschlüssiges Gemurmel.

Gleichzeitig mit dem deprimierten Orlando brütet gute achthundert Meter weiter, im „Palazzo di Giustizia“, ein anderer über sein künftiges Schicksal: Der Generalstaatsanwalt Giancarlo Caselli, 58. Der Jurist war vor einem Jahr als Chef der sizilianischen Antimafia- Staatsanwaltschaft eingesetzt worden und dann zum obersten Strafverfolger aufgestiegen. Auf sein Konto gehen nicht nur die Festnahmen zahlreicher hoher Mitglieder des Mafialeitorgans „Cupola“: Er weckte bei einer Reihe von ihnen auch die Bereitschaft zu rückhaltlosen Aussagen gegen ihre vormaligen Kumpane. Nun findet sich Caselli plötzlich zusammen mit allerlei Kollegen der Mailänder Schmiergeldermittlungskommission „Mani pulite“ auf einer von der Wochenzeitung L'Italia settimanale publizierten „Schwarzen Liste“ wieder: „Leute, die zu verscheuchen sind“.

Prompt nahm die in den letzten beiden Jahren stark unter Druck geratene Mafia die „Wende“ auf: In einer Provokation sondergleichen meldete sich der seit 23 Jahren untergetauchte, oft totgesagte Bernardo Provenzano kürzlich aus dem Untergrund zurück und ließ erkennen, daß er nach der Festnahme des Oberbosses Riina und dessen Stellvertreter Nitto Santapaola zum obersten Chef des Mafia-Leitorgans „Cupola“ aufgestiegen sei. Dabei benannte er gleich schon mal einen berühmten Anwalt als Verteidiger, um „mich in Abwesenheit gegen die infamen Anschuldigungen der Staatsanwälte wehren zu können“.

Derlei Unverfrorenheit verschlägt selbst denen die Sprache, die die politische Wende durchaus wollten – Tiziana Parenti zum Beispiel, die vor einem halben Jahr aus dem norditalienischen Strafverfolgerteam von „Mani pulite“ aus Protest gegen die angebliche Blindheit gegenüber Verfehlungen der ehemaligen KP ausgeschieden war und auf den Listen des „Freiheitlichen Pools“ um Berlusconi kandidiert hatte. Sie erklärte beim ersten Meeting der neuen Abgeordneten ihrer Gruppe „die Gefahr einer Infiltration mafioser oder mafianaher Personen in die für Berlusconi streitenden Clubs Forza Italia“.

Berlusconi, der Medien-Wendemensch, lächelt darüber wie immer, wenn Kameras auftauchen, und schließt eine solche Lage „kategorisch aus“: Beweis: „In unserem Programm steht der Kampf gegen die Kriminalität an allererster Stelle“. Was stimmt. Nur: Berlusconi vergißt immer hinzuzufügen, daß er nie gesagt hat, um welche „Kriminalität“ es ihm denn gehe – war doch aus seinen drei Fernsehketten zum Beispiel gar nicht selten zu hören, daß die „eigentlich“ Kriminellen weniger die Gangster sind, als vielmehr die respektlosen Strafverfolger – wenn man ihnen auch nur einmal unter hundert Zugriffen einen Fehler nachweisen konnte. Und mit welchen Mitteln er der „Kriminalität“ Herr werden will, hat Berlusconi auch ausgelassen. Vorsorglich jedenfalls wurde Frau Parenti, die eigentlich für das Justizressort vorgesehen war, von der Liste der „Ministrablen“ gestrichen.

Ganz offenbar soll die „Wende“ auch das Ende politikstörender Ermittlungen und gefängnisträchtiger Anklagen für hohe Tiere einleiten: „Die neue Nomenklatura sorgt bereits jetzt für ihre künftigen Schweinereien vor“, vermutete nicht ganz ohne Grund la Repubblica.

Das ist sicher nicht weit von der Wahrheit entfernt. Jedenfalls fühlen sich viele alte Hasen des Berichterstattungsgewerbes in den letzten Wochen immer deutlicher an frühere Zeiten erinnert, als das, was verfolgt werden durfte und was nicht, eng mit den Interessen der jeweiligen Ministerien und des Regierungspalais Palazzo Chigi zusammenhing. So sprach das Schwurgericht Rom – dem nicht zu Unrecht eine besondere Witterungsgabe für politische Windrichtungen nachgesagt wird – nach sage und schreibe dreizehn Jahren angeblicher Ermittlungen ein geradezu unvorstellbares Urteil: Danach ist die 1982 per Parlamentsbeschluß wegen umstürzlerischer Aktivitäten aufgelöste Geheimloge „Propaganda 2“ „nicht als kriminelle Vereinigung einzustufen“. Die „Propaganda 2“ war eine Gruppe aus gut tausend Politikern, Generälen, in- und ausländischen Geheimdienstchefs, Polizeiführern, Medienzaren (darunter auch Berlusconi), Topfinanziers, Bankpräsidenten und berühmten Journalisten, von denen nicht nur einige, sondern eine gute Hundertschaft durch rechtskräftige Gerichtsurteile bewiesenermaßen in Attentate und Vernebelungsmanöver, illegale Transaktionen und Putschvorbereitungen, Morde und Erpressungen verwickelt waren.

Das Triumphgeschrei der Rechten, das sich nach dem Urteil erhob, ließ einem endgültig das Blut in den Adern gerinnen: Laut Berlusconi war die „Sache ,Propaganda 2‘ nur eine besonders langanhaltene Ente“, und der Neofaschist Fini, auch er Bestandteil der Rechtsallianz und Vorsteher der Neofaschisten, von denen so mancher ebenfalls in die Loge eingeschrieben war und rechtskräftig verurteilt ist, tönte: „Endlich ist die Wahrheit ans Licht gekommen.“

Mag sein, die Frage ist nur: Welche Wahrheit? Sicher nicht die über die Untergrundmanöver der Mächtigen im Lande, von Spekulanten über undurchsichtige Manager bis zu Mafiosi – wohl aber vielleicht die über den derzeitigen Zustand der Justiz. Die, so scheint es, hat sich bereits entschieden, nach dem kurzen Frühling der Selbstreinigung und des Kampfes gegen Dunkelmänner und Mafiosi, wieder in den „Palazzo“ zurückzukehren, in das Machtkartell, wie immer. Nur daß es nicht mehr der Palazzo der bis 1992 herrschenden Gerontokratie ist, sondern der ihrer Söhne, Neffen und Günstlinge, die nun an die Schalthebel der Macht gelangt sind.