Sicherheit – ein unschätzbares Gut

Über Nacht flohen 250.000 vor den Kämpfen in Ruanda in die Sicherheit jenseits der tansanischen Grenze / Viele richten sich auf einen längeren Aufenthalt im Flüchtlingslager ein  ■ Aus Banico Bettina Gaus

Matratzen und Decken liegen auf der schlammigen, vom Regen aufgeweichten Erde. Frauen sitzen vor kleinen Feuerstellen und kochen Porridge. Kühe grasen zwischen provisorischen Hütten. Ein Mann verkauft Fleisch, offenbar frisch geschlachtet. Irgendein System oder eine Ordnung lassen sich nicht erkennen – nicht einmal festgetrampelte Pfade führen durch das Chaos, das sich Kilometer um Kilometer weit erstreckt. Das Wort „Menschenansammlung“ gewinnt im tansanischen Flüchtlingslager Banico, 16 Kilometer entfernt von der Grenze zu Ruanda, eine neue Dimension. Innerhalb von nur 24 Stunden sind Ende letzter Woche hier UNO-Schätzungen zufolge fast 250.000 Männer, Frauen und Kinder angekommen – das entspricht in etwa der Gesamtbevölkerung von Kiel.

In der abgelegenen, landwirtschaftlich genutzten Gegend gibt es außer Mais, Bananen und Schirmakazien so gut wie nichts: keine Unterkünfte, keine Wasserleitungen, keine Krankenhäuser.

Den Flüchtlingen aber verspricht selbst diese armselige Zuflucht ein unschätzbares Gut: Sicherheit. Seit dem Tod des Präsidenten Juvénal Habyarimana am 6. April ist Ruanda Schauplatz landesweiter Massaker, denen bisher bis zu 200.000 Menschen zum Opfer gefallen sein sollen. Das rettende Nachbarland Tansania war über Tage hinweg für die Hilfesuchenden in Sichtweite – und dennoch unerreichbar fern. Der Grenzübergang, die Rusumo- Brücke über den Fluß Kagera, wurde von Soldaten der Regierungsarmee versperrt.

Dann sahen die Flüchtlinge ihre Chance: Die Soldaten ergriffen die Flucht vor den näherrückenden Truppen der Rebellenbewegung RPF (Patriotische Front Ruandas). Am Donnerstag abend war die Grenze offen – am Freitag abend wurde sie von der RPF erobert. Die wenigen Stunden hatten genügt, um Hunderttausende ans rettende andere Ufer gelangen zu lassen.

Seither liegt der Grenzübergang verlassen da. Drei tansanische Soldaten bewachen ihn auf der einen, etwa zwanzig RPF-Angehörige auf der anderen Seite. Der Fluß Kagera in der Mitte legte Zeugnis vom Grauen in Ruanda ab: Zwischen Felsbrocken und Ufergras eingeklemmt, schwimmen Leichen im schmutzigbraunen Wasser, Opfer von Massakern. Die aufgeblähten Leiber sind grotesk verkrümmt und verstümmelt, kaum noch als menschliche Körper zu erkennen. Einige sind sehr klein: Kinderleichen.

„Die RPF hat Flüchtlinge an der Brücke niedergemetzelt“, behauptet der Lehrer Jean Bosco Gasana im Flüchtlingslager Banico. „Ein Teil hat es geschafft zu entkommen, die anderen wurden umgebracht.“ Gesehen hat er das Massaker nicht, nur davon gehört. Er weiß auch nicht, wann es geschehen sein soll. Mitarbeiter von Hilfsorganisationen bestreiten, daß Flüchtlinge an der Grenze umgebracht wurden. „Die meisten erzählen weiter, was ihnen erzählt wurde. Sehr wenige haben selbst etwas gesehen“, meint Bradley Guerrant vom Welternährungsprogramm WFP. Warum kommt dann jetzt niemand mehr über die Brücke? „Die Leute wollen nicht herausfinden, was die RPF tut, wenn sie fliehen. Sie wollen kein Risiko eingehen.“

Seit Wochen hatten Augenzeugen der Gewalt in Ruanda berichtet, daß vor allem Tutsi Opfer von Massakern geworden sind. Das ursprünglich feudalistisch organisierte Minderheitsvolk hatte jahrhundertelang die Bevölkerungsmehrheit der Hutu beherrscht und war erst kurz vor der Unabhängigkeit 1962 von der Macht vertrieben worden.

Die Tutsi bilden das Rückgrat der RPF, die im letzten August nach dreijährigem Bürgerkrieg mit der Hutu-dominierten Regierung einen Friedensvertrag geschlossen hatte. Die Ereignisse der letzten Wochen haben alle Bemühungen zunichte gemacht, über ethnische Grenzen hinweg ein friedliches Ruanda neu zu gestalten. Die alte Feindschaft ist neu entflammt.

Ins Flüchtlingslager Banico haben sich vor allem Hutu gerettet. Viele von ihnen haben ihre Heimat aus Angst vor Racheakten der RPF verlassen. Manche mögen besondere Gründe haben, Vergeltung zu fürchten: Auffallend viele junge Männer sind im Camp zu sehen – ungewöhnlich an einem Ort wie diesem, wo normalerweise Frauen und Kinder bei weitem in der Überzahl sind. Gerüchte, daß unter ihnen manche zu finden sind, die in den letzten Wochen zu Mördern an ihren Landsleuten wurden, machen im Lager die Runde. Berge von Macheten und Messern haben tansanische Behörden bei den Flüchtlingen konfisziert. Tatwaffen oder Werkzeuge zur Selbstverteidigung?

„Wir haben keine Angst vor der Regierungsarmee, nur vor der RPF. Sie massakrieren so viele“, sagt im Flüchtlingslager der 21jährige Gad Himgabugabo, und etwa zwanzig andere junge Männer nicken bestätigend mit dem Kopf. „Es sind überhaupt keine Tutsi umgebracht worden“, meint Jean Niyitegeka, ein Student. Er bezeichnet sich selbst als Tutsi. Einige der Umstehenden kichern. „Ich fürchte mich vor der RPF“, fährt Jean Niyitegeka fort. „Sie ist verantwortlich für den Tod des Präsidenten, zusammen mit einigen Hutu-Komplizen.“ Allgemeine Zustimmung. Und die berüchtigten Milizen, die Soldaten der Regierung – sie sollen gar niemanden getötet haben? „Na ja, es ist eben Bürgerkrieg.“ Der 26jährige Erneste Dushyizehamue zuckt mit den Schultern. „Da bringt jeder jeden um.“

Dichtung und Wahrheit sind hier im Grenzgebiet schwer voneinander zu unterscheiden. Auf der Straße, fünf Kilometer vom Camp entfernt, rastet eine Gruppe von etwa siebzig zerlumpten, abgemagerten Flüchtlingen. Sie sind erst an diesem Tag aus Ruanda gekommen. Über den Fluß Kagera sind sie in Kanus gerudert – den Weg über die Brücke wagten sie nicht zu nehmen. „Wir haben uns im Busch vor der RPF versteckt. Seit zwei Wochen sind wir unterwegs“, erzählt der Bauer Paolo Yamulemie. „Ich habe gesehen, wie sie Leute umgebracht haben.“ Die Bäuerin Yovina Ramasina kommt aus demselben Dorf: „RPF-Leute haben meinen Kindern die Kehlen durchgeschnitten. Als wir vom Wasserholen kamen, haben wir die Leichen gefunden.“

Diese Geschichten hören sich glaubwürdiger an als die Behauptungen der jungen, gutgekleideten Männer. Aber welche Meßlatte läßt sich da anlegen, welches Kriterium ist gültig? Das Flüchtlingslager Banico ist einer jener Orte, wo Journalisten wieder einmal vor Augen geführt wird, wie fragwürdig und ungesichert die Informationsquellen sind, aus denen sie in unübersichtlichen Situationen wie einem Bürgerkrieg schöpfen müssen. Die übereinstimmenden Berichte über Racheakte der RPF lassen es wahrscheinlich erscheinen, daß auch diese Truppen, die in der internationalen Berichterstattung bisher überwiegend positiv dargestellt wurden, Greueltaten verüben. Aber in welchem Umfang? Wo? An wem? Gespräche unter Reportern spiegeln die Ratlosigkeit wider. Die Einschätzung der Lage wird zur Ermessensfrage.

Mitarbeiter internationaler Hilfsorganisationen haben weit konkretere Probleme. Sie sorgen sich um die Sicherheit der Flüchtlinge. Hutu und Tutsi leben derzeit Laubhütte an Laubhütte. „Wir haben beobachtet, wie Leute sich neue Messer aus herumliegendem Altmetall gebastelt haben“, erzählt Bradley Guerrant. „Und eben habe ich gesehen, wie einer auf einen anderen mit einem Stock losgegangen ist. So etwas kann schnell außer Kontrolle geraten.“

Im Camp soll jetzt eine eigene Lagerpolizei, organisiert von den Flüchtlingen selbst, für Ordnung sorgen. Aber es gibt so viele Schwierigkeiten, die alle gleichzeitig in Angriff genommen werden müssen. „Wir sind hier mit einem gigantischen Erste-Hilfe-Programm konfrontiert, und zwar in jeder Hisnicht“, sagt Sheila Wilson von der Internationalen Föderation vom Roten Kreuz. „Jeden Tag ist es ein neues Problem, das von uns als das Dringlichste eingestuft wird. Am Anfang war es vor allem die Frage, wie sich eine solche Menge von Leuten organisieren läßt. Dann die Unterkünfte. Nach dem Regen in der letzten Nacht haben wir gemerkt, daß sanitäre Einrichtungen ein riesiges Problem sind. Wir haben nicht genug Latrinen.“ Eine ihrer Kolleginnen formuliert es drastischer: „Passen Sie auf, wo Sie hintreten. Hier liegt überall Scheiße.“

Noch scheinen die langgestreckten Hügel der Umgebung, auf denen neben kleinen Feldern unberührtes Buschland wuchert, von der Invasion fast unberührt zu sein. Aber das wird nicht lange so bleiben: Hunderte von Frauen und kleinen Jungen tragen schwere Holzbündel auf dem Kopf, zum Bauen und zum Kochen. Es gibt hier ohnehin wenig Bäume. Bald wird es gar keine mehr geben.

Ein paar hundert Meter vom Lager entfernt liegt ein schlammiger See. Seine Ufer: ein bunter Flickenteppich aus frischgewaschenen Kleidern. Die Hilfsorganisation „Ärzte ohne Grenzen“ pumpt und chloriert hier unermüdlich Wasser. „Die Werte des Wassers sind gesundheitlich unbedenklich“, erklärt ihr Mitarbeiter Omar Benhamahoum. „Aber die Menge, die wir brauchen, ist gigantisch.“

Die UNO-Richtlinien sehen in Flüchtlingslagern einen Tagesverbrauch von 20 Liter Wasser pro Person vor. Auch nur die Hälfte davon bedeutet derzeit einen Bedarf von mehr als zwei Millionen Litern täglich. Tanklaster sollen jetzt zusätzliches Wasser heranschaffen. „Wenn wir so weiterpumpen wie bisher, reicht das Wasser zwei Monate. Dann ist der See leer“, sagt Benhamahoum.

Die Flüchtlinge haben dennoch Glück im Unglück: Seit dem gescheiterten Putschversuch in Burundi im letzten Herbst wurden in der Region mehrere tausend Flüchtlinge aus diesem Lager in andere Gebiete gebracht. Internationale Hilfsorganisationen verfügen deshalb hier bereits über eine bestehende Infrastruktur und haben sich auch auf einen Ansturm aus Ruanda vorbereitet. „Unsere Lebensmittelvorräte reichen zwei bis drei Wochen“, meint Bradley Guerrant vom Welternährungsprogramm WFP. Schon drei Tage nach ihrer Ankunft haben die Flüchtlinge ihre erste Ration Mais, Bohnen, Öl und Salz erhalten. Jeden Tag werden 155 Tonnen Lebensmittel gebraucht – das sind etwa 15 hoch beladene Schwertransporter.

Viele von denen, die jetzt aus Ruanda geflüchtet sind, richten sich auf einen längeren Aufenthalt ein. „Wenn die RPF siegt, gehe ich nicht zurück“, erklärt Yovina Ramasina. Derzeit sieht es ganz danach aus. Wenige Kilometer vom Lager entfernt sind unterdessen tansanische Arbeiter mit dem Bau einer neuen Straße beschäftigt. Mit Planierraupen und Baggern haben sie bereits einen breiten Weg gebahnt. Ist er erst einmal asphaltiert, dann wird die Fahrt von der tansanischen Kleinstadt Ngara zur Grenze nach Ruanda ein Katzensprung sein – nicht einmal 50 Kilometer auf einer der besten Straßen Afrikas. Wie lange wird es dauern, bis für diese Verkehrsverbindung wieder ein Bedarf besteht?