Estnische Ängste

■ Mit Moskau wird wieder über ein Truppenrückzugsabkommen verhandelt

Stockholm (taz) – Gestern wurden in Lohusala, südlich der estnischen Hauptstadt Tallinn, die russisch-estnischen Truppenabzugsverhandlungen wiederaufgenommen. Estland ist mittlerweile das einzige baltische Land, das noch keinen Abzugstermin für die restlichen im Lande stationierten russischen Soldaten – es sind noch etwa 3.000 – ausgehandelt hat.

Die Verhandlungen mit Estland werden dadurch vereinfacht, daß Moskau hier im Unterschied zu Lettland keine Beibehaltung einer Militärbasis fordert. Inoffiziell hat Rußland daher bereits den 31. August als Abzugstermin vorgeschlagen, bis zu diesem Zeitpunkt sollen die ehmaligen Rotarmisten auch Lettland verlassen haben. Knackpunkte der Gespräche sind jedoch die Sanierungskosten für die von der Roten Armee verlassenen Stützpunkte sowie die Frage der russischen Militärpensionäre. Während die Kosten für das Aufräumen nach dem Abzug der Roten Armee – unter anderem befinden sich auf der Marinebasis von Paldiski, 30 Kilometer westlich von Tallinn, zwei kleine Atomreaktoren – vermutlich durch westliche Gelder gedeckt werden können, besteht Estland im Unterschied zu Lettland darauf, daß die Armeepensionäre entsprechend den Bestimmungen des geltenden Ausländergesetzes das Land verlassen. Dieses Gesetz ist wegen einer Sonderregelung, die Offizieren der Roten Armee ein Aufenthaltsrecht verweigert, auch international kritisiert worden. In Estland besteht zudem das Problem, daß ein Großteil der „Rentner“ sehr jung ist. Viele gelten als ehemalige KGB-Mitarbeiter, und so gibt es in Estland Befürchtungen, mit ihnen eine fünfte Kolonne Moskaus im Lande zu behalten.

Nach den Abkommen mit Litauen und Lettland dürfte es Estland allerdings schwer haben, seine grundsätzlich ablehnende Linie beizubehalten. Nicht nur Schwedens Regierung hat Estland unverblümt aufgefordert, dem lettischen Vorbild zu folgen, sondern auch Finnland. Helsinki spielt zwischen Estland und Rußland eine ähnliche – inoffizielle, aber offenbar wirksame – Vermittlerrolle wie Stockholm bei den russisch-lettischen Verhandlungen.

Erschwert werden die Gespräche zudem durch die Forderungen nationalistischer Parteien, die Frage der künftigen estnisch-russischen Grenze nur in Verbindung mit dem Truppenabzug zu verhandeln. 1940 hatte Moskau nach der Annektion Estlands diese Grenze an zwei Stellen nach Westen verschoben: im Gebiet von Narva und bei Petseri im russisch-lettisch-estnischen Grenzdreieck. Estland will eine Rücknahme der Verschiebungen. Im Petseri-Gebiet sind von Moskau inzwischen aber regelrechte Grenzbefestigungen errichtet worden. Ein Teil der aus dem Baltikum abgezogenen Truppen wurde hier stationiert. Es sollen auch neue Flugplätze gebaut worden sein, was das Gebiet für beide Seiten zu einem heißen Eisen macht. Reinhard Wolff