Wo ist eigentlich der ganze Sand geblieben?

■ Kosten, Pannen, Katastrophenszenarios: Wissenswertes über den Kanaltunnel

Wo ist der Sand aus dem 52,5 km langen Tunnel geblieben? In einem alten Kriegsfilm hatten die Gefangenen ihn aus ihrem Fluchttunnel ins Freie transportiert. Beim Kanaltunnel lief das anders: In England hat man das Gestein ins Meer geworfen, dadurch gut 25 Hektar Land gewonnen; in Frankreich wurde das Geröll mit Wasser gemischt. Mit der Pampe wurde ein künstlicher See angelegt. Wenn das Wasser verdunstet ist, soll Gras über die Sache wachsen.

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Monatelang hatten Robbins und Brigitte, die beiden computergesteuerten Bohrmaschinen, sich durch das Gestein gefressen — Robbins von Folkestone aus, Brigitte von Calais. Ihre Begegnung im November 1990 war aber nur von kurzer Dauer: Sie mußten sich ihr eigenes Grab schaufeln, eine Demontage hätte zu lange gedauert, hatte Eurotunnel ausgerechnet.

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Im vergangenen Jahrhundert verdingten sie sich beim englischen Eisenbahnbau, jetzt haben sie einen Großteil der 4.000 Arbeitskräfte für den Eurotunnel gestellt: Gemeint sind die irischen Arbeitsmigranten, die „Tunnel-Tiger“, die laut Sun umgerechnet 3.000 Mark in der Woche verdienten, jeden Abend 20 Bier tranken und in der vornehmen Hafenstadt Folkestone Amok liefen. Der ebenso wohlinformierte Daily Express wußte zu berichten, daß die „Tunnel-Tiger“ immer am Zahltag eine Kollekte für die IRA abhielten.

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Apropos IRA: Der britischen Regierung ist höchst suspekt, was da alles aus dem Tunnel gekrochen kommen könnte: Zwei Tage nach dem Durchstich am 31.10. 1990 waren schon die ersten ausländischen Spinnen da. Aus Angst vor Tollwut sowie Maul- und Klauenseuche hat man deshalb ein kompliziertes System von Gittern und Fallen gebaut. Für unerwünschte Personen gibt es in den Zügen der ersten Klasse Stahlschlaufen an einigen Sitzen, an die man Terroristen und Kriminelle mit Handschellen fesseln kann.

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Die Sicherheitsdienste haben bereits eine Schlappe erlitten: Am 11.11. 1993 gelang fünf französischen Studenten der Einstieg in den Schacht. Sie wurden erst gestellt, als sie die Röhre in England wieder verließen. Ihren Erfolg dokumentierten sie auf Video.

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Lord Palmerston sagte 1867, als ihn der französische Bauingenieur Thome de Gamond um eine finanzielle Beteiligung am Tunnelprojekt bat: „Was? Sie wollen, daß ich mich an einem Unternehmen beteilige, das eine Entfernung noch weiter verkürzen soll, die für uns ohnehin schon zu kurz ist?“

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Die ehemalige Premierministerin Margaret Thatcher sah das weniger verbissen. Der Tunnel sollte eigentlich am 14. Jahrestag ihrer Inthronisierung eröffnet werden. Doch erstens kommt es anders...

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Termingerecht fertig war nur der Londoner Bahnhof Waterloo, der im Mai 1993 mit viel Getöse eingeweiht worden ist. Freilich litt die Eröffnungsfeier unter der Abwesenheit der Hauptdarsteller: Die Züge werden erst mit mehrjähriger Verspätung eintreffen, weil man sich erst über die Streckenführung der Hochgeschwindigkeitstrasse nach Folkestone einigen muß.

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So kann man sich irren: Die ursprünglich veranschlagten Kosten von 4,87 Mrd. Pfund sind inzwischen auf 10,5 Mrd. (rund 27 Mrd. DM) angestiegen. In den ersten Jahren wird kein Penny für die Schuldentilgung übrigbleiben, sondern der gesamte Eurotunnel-Gewinn wird für Zinszahlungen draufgehen. Wenn überhaupt, hat das Unternehmen erst im nächsten Jahrzehnt eine Chance auf Reduzierung seiner enormen Last.

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Die britische Feuerwehr-Gewerkschaft prophezeite, daß der Kanaltunnel eines Tages zum „längsten Krematorium der Welt“ werden könnte. Hollywood weiß das schon lange: In einem Katastrophenfilm mit Jodie Foster in der Hauptrolle geht es um einen Zug, der außer Kontrolle durch den Eurotunnel rast. „So eine schlechte Werbung könnte äußerst schädlich sein“, befand die Presseabteilung von Eurotunnel. Hoffentlich ereilt die Queen heute nicht dasselbe Schicksal wie Robbins und Brigitte. Das wäre dann tatsächlich eine schlechte Werbung. Ralf Sotscheck