Seismograph am Bahnsteig

■ Obdach und Süppchen für Reisende / Die Bahnhofsmissionen werden 100 Jahre alt

Hannover Anfangs galt es vor allem reisende junge Frauen in fremden Bahnhöfen zu schützen. Nach dem Krieg wurden zurücckehrende Soldaten betreut. Für DDR-Übersiedler schließlich waren die Bahnhofsmissionen häufig erste Anlaufstelle in der neuen Heimat. Seit nunmehr 100 Jahren sind die Missionsstationen zwischen Gleisen und Fahrkartenschaltern ein ruhiger Zufluchtsort – nicht nur für Reisende – im hektischen Bahnverkehr. Im Vorjahr nahmen mehr als 3,2 Millionen Menschen das kostenlose Angebot der deutschen Bahnhofsmissionen in Anspruch.

Ein Festgottesdienst in Hannover bildete am Donnerstag den Auftakt für zahlreiche Jubiläumsfeiern zum Hundertjährigen in ganz Deutschland. Die persönliche Zuwendung ist heute wie vor 100 Jahren selbsterteilter Auftrag der Bahnhofsmissionen. „Nur die Zielgruppe und die Schwerpunkte der Arbeit haben sich im Laufe der Zeit gewandelt“, sagt Pfarrer Peter Moll, Geschäftsführer der Stuttgarter Zentrale der evangelischen Bahnhofsmissionen. Während sich die Missionen heute eher als Rettungsanker für Rat- und Hilfesuchende in den Bahnhofshallen verstehen, befaßten sie sich um die Jahrhundertwende mit dem Schutz junger Frauen.

„Viele Mädchen mußten damals ihre Elternhäuser verlassen, um sich Verdienstmöglichkeiten in den Städten zu suchen“, erzählt Moll. Stellenvermittler und Vermieterinnen hätten jedoch oft die Unerfahrenheit der erwerbssuchenden und ortsunkundigen Frauen ausgenutzt. Besorgt um die Sicherheit der Frauen bewegte der Berliner Pastor Johannes Burckhardt dann 1894 den „Verein zur Fürsorge für die weibliche Jugend“ zur Gründung einer systematischen Betreuung reisender Mädchen – die Idee der Bahnhofsmission war geboren.

Nach den Weltkriegen kümmerten sich die seit 1910 ökumenisch verbundenen evangelischen und katholischen Bahnhofsmissionen auch um heimkehrende Soldaten, Flüchtlinge, Ausgewiesene und Mittellose. Später kamen vor allem Rentner aus der DDR und Aussiedler als Hilfesuchende hinzu.

„Heute kommen meistens alleinreisende Kinder, Behinderte oder unsichere ältere Menschen zu uns“, schildert die Leiterin der evangelischen Bahnhofsmission in Hannover, Christa Krüger. „Wir verstehen uns aber auch als eine Art Seismograph.“ Die tägliche Arbeit der meist ehrenamtlichen Mitarbeiter in den mehr als 100 deutschen Bahnhofsmissionen sei ein Spiegel gesellschaftlicher Notsituationen.

Die Kosten der Bahnhofsmissionen werden nach Angaben der Freiburger Geschäftsführerin der Konferenz für Kirchliche Bahnhofsmission in Deutschland, Regina Wuest, zu durchschnittlich 70 Prozent von den Kirchen getragen. Der Rest kommt vor allem durch Spenden zusammen. Es sei selbstverständlich, daß soziale Arbeit der Missionen auch für Menschen gilt, die aus der Bahn geraten seien, betont Christa Krüger angesichts der steigenden Zahl bedürftiger Obdachloser. Die Bahnhofsmission könne jedoch keine Versorgungseinrichtung sein – dafür fehle das Geld. Martin Oversohl, dpa