: ... während sie selbst nähte
Der erste Band einer weiblichen skandinavischen Literaturgeschichte ist erschienen ■ Von Janet Garton
In dem Buch „Jns saga helga“, einer Bischofslegende aus dem 13. Jahrhundert, wird das Leben am Bischofssitz Hlar beschrieben, der Alltag der dortigen Gelehrten und Studenten. Unter den Gelehrten war auch eine Frau, Ingunn, über die wir folgendes erfahren: „In ihrer Belesenheit stand sie niemandem nach. Sie unterrichtete lateinische Grammatik und lehrte sie jedem, der sie lernen wollte. Viele wurden unter ihrer Führung belesen und gelehrt. Sie korrigierte lateinische Texte, die sie sich vorlesen ließ, während sie selbst nähte, Brettspiele spielte oder sich einem anderen Handwerk widmete, das mit den Legenden der Heiligen in Verbindung stand...“
Diese junge Frau, die so gelehrt ist, daß sie die Arbeiten anderer korrigiert, ist selber in Latein nie unterrichtet worden, sondern hat es allein durch Zuhören gelernt. Dabei widmete sie sich Beschäftigungen, die man für ihr Geschlecht als angemessen empfand. Von ihr selbst verfaßte Texte sind nicht überliefert. Und nur in der ersten Fassung der Legende taucht sie überhaupt auf: in der zweiten, revidierten Fassung ist sie bereits wieder verschwunden.
Diese Episode ist eine der vielen Geschichten, die Helga Kress in ihrem ausführlichen Beitrag „Kultur og kon pa Island i den norrone middelalder“ (Kultur und Geschlecht im isländischen Mittelalter) als Beispiel für die Oralität weiblicher Kreativität anführt, die den ersten Band einer nordeuropäischen Geschichte der Frauenliteratur einleitet. In vielen Gesellschaften waren Frauen Träger der mündlich überlieferten Tradition und wurden meist mit der Einführung einer auf Schrift beruhenden Kultur, die damit in männliche Hände überging, größtenteils ausgeschlossen.
Dieses Motiv zieht sich durch den gesamten Zeitraum von achthundert Jahren, mit dem sich dieser Band beschäftigt. Es wird von Eva Haettner Aurelius wiederaufgenommen, die über die Möglichkeiten weiblicher Äußerungen im Mittelalter, als die Kirche vor allem mit der Sicherung ihrer Macht beschäftigt war, geforscht hat. „In der Kirche wie überall in der Gesellschaft können wir beobachten, daß Frauen zu Beginn einer Bewegung, wenn deren Ausdehnung und Weiterentwicklung anstehen, viel Bewegungsspielraum zugestanden wird, daß jedoch Restriktionen und Verbote einsetzen, sobald es um Institutionalisierung und Absicherung geht.“ Und das Motiv kehrt auch am Ende wieder, wenn von der mündlichen Tradition der Balladen und Sagen die Rede ist, deren Niederschrift in den meisten Fällen durch Männer ausgeführt wurde – wobei das „Rohmaterial“ von Frauen zur Verfügung gestellt wurde.
Teilweise gewinnt man den Eindruck, daß viele Beiträge dieses ersten Bandes sich eher mit dem Schweigen als mit der Sprache der Frauen beschäftigen, mit der Rekonstruktion dessen, was unsere Schriftkultur zensiert hat, und mit Texten, in denen nur noch schwache Spuren weiblicher Beteiligung sichtbar sind. Das Schweigen deutet einerseits auf Repression hin, ist aber auch als weibliche Drohung interpretiert worden. In ihrem Kapitel über die Hexenprozesse in Dänemark, die von 1530 bis zum Ende des 17. Jahrhunderts anhielten, argumentiert Lisbeth Holst, daß die entscheidende Provokation für die Inquisitoren zwar die Sexualität der Frauen war, daß ihr Schweigen jedoch gleich an zweiter Stelle stand: Sie müssen mit allen Mitteln zum Sprechen gebracht werden. Holst bezieht dieses Beharren auf Sprache überzeugend auf Foucaults Theorien, die er in seiner „Geschichte der Sexualität“ ausgeführt hat, daß nämlich die Beichte ein Mittel für eine Institution wie die Kirche war, sich über ihre Mitglieder Wissen anzueignen und sie damit zu kontrollieren. Lisbeth Holst stellt darüber hinaus die These auf, daß nicht wenige Frauen ganz ausdrücklich beichten wollten, da die Beichte ein Mittel ist, das Schweigen zu brechen, und damit gewissermaßen eine Garantie dafür, daß ihnen endlich zugehört wird.
In diesem ersten Band einer lange erwarteten mehrbändigen Ausgabe tauchen überraschend viele Frauen auf, unbekannte und andere, deren Namen überliefert sind. Über zwanzig nordeuropäische Autorinnen haben sich zusammengetan, um den weiblichen Beitrag zu den Literaturen Dänemarks, Norwegens, Schwedens, Islands, Finnlands und der Färöer- Inseln aufzuzeichnen und auszuwerten. Der Band hält sich in der Hauptsache an die chronologische Ordnung, gruppiert seine Beiträge jedoch um Hauptthemen und literarische Genres. Auf den ersten Abschnitt über das Mittelalter in Island folgen: „Den hellige opgave“ (Die heilige Aufgabe), eine Beschäftigung mit religiösen Texten; „Feminae illustres“, über gelehrte Frauen des 17. Jahrhunderts; „I eget navn“ (In ihrem eigenen Namen) über die selbstbewußte, unabhängige Frau des 18. Jahrhunderts und schließlich die Beschäftigung mit der oralen Tradition. Besonders dieser letzte Teil enthält faszinierendes, zum Teil unbekanntes Material, von alten Trauerritualen bis zu grotesken Geschichten über sexuelle Racheakte, die eines Rabelais würdig wären. – Elisabeth Moller Jensens Anspruch, den sie im ersten Satz ihrer Einleitung formuliert, daß die Buchreihe „von dem handelt, was Frauen geschrieben haben, und von den nordeuropäischen Ländern“, wird zumindest für diesen ersten Band schnell zu einem allzu bescheidenen Understatement. Viele Kapitel handeln nämlich nicht nur von dem, was Frauen geschrieben haben, sondern erschließen den gesamten kulturellen Kontext, der zum Verständnis der Schriftkultur nötig ist, an der die schreibenden Frauen stetig mehr Anteil nehmen. Manchmal erfahren wir mehr über den Blick auf die Frauen in diesen Jahrhunderten als über den Blick der Frauen selbst. Teile des Bandes können als nordeuropäische Geschichte der Sexualität gelesen werden, ihre gesellschaftlichen Tendenzen werden nicht nur in einen nord-, sondern gesamteuropäischen Rahmen gestellt. So wird beispielsweise die lutherische Sicht der Jungfrau Maria im „Mariaviser“ mit der katholischen kontrastiert oder die Zurückweisung von Ehe und Mutterschaft der französischen precieuses mit deren Akzeptanz bei ihren holländischen Zeitgenossinnen verglichen.
Nach 1600 nehmen einzelne Schriftstellerinnen immer mehr Raum ein, und ganze Kapitel werden den großen Frauen der letzten zwei Jahrhunderte gewidmet, wie Brigitte Thot, Leonora Christina und Charlotta Dorothea Biehl aus Dänemark, Dorothe Engelbretsdatter und „Mutter“ Koren aus Norwegen, Agneta Horn, Hedvig Charlotta Nordenflycht und Anna Maria Lenngren aus Schweden. Der Zugang der Autorinnen zu den von ihnen beschriebenen Frauen ist ebenso individuell und verschieden wie diese. Viele der Frauen erscheinen in mehreren Kapiteln, besonders die faszinierende Charlotta Dorothea Biehl (1731–88), heute am bekanntesten durch ihre Autobiographie; sie war die „Briefeschreiberin des Jahrhunderts“, Theater- und Geschichtenautorin und Übersetzerin von Cervantes „Don Quixote“ ins Dänische. Durch diese Übersetzung ist sie vielen Generationen von Literaturhistorikern bekannt, während ihre selbstverfaßten Texte bis vor kurzem vollkommen vergessen waren.
Informationen über die zeitgenössische, oft sehr breite Rezeption der Schriftstellerinnen des 17. und 18. Jahrhunderts ist angesichts ihres späteren Schicksals besonders interessant. Dorothe Engelbretsdatter zum Beispiel wurde viel gelesen; ihre Gedichte in „Siaelen Sang-Offer“ (1678) (Liedergabe der Seele) hatten in den ersten sechs Jahren nach Erscheinen zahlreiche Auflagen. Peter Dass reiste wegen dieses Buches extra zu ihr nach Bergen, und sie mußte ihm ihr letztes Exemplar geben, weil es gerade wieder einmal vergriffen war. Dass selbst fand, solange er lebte, keinen Verleger für seine Werke, während Engelbretsdatter für das ihre gar das königliche Copyright bekam.
Das Buch bietet soviel Interessantes, daß eine Kritik schon beckmesserisch wirkt. Zwei Aspekte geben dennoch Anlaß zur Irritation. Zum einen ist dieses Projekt zu stark dänisch inspiriert und dominiert, sowohl was die Inhalte betrifft als auch die Sprache, in der sie vorgestellt werden. Daß Artikel, die in Schwedisch oder Norwegisch geschrieben sind, unbedingt ins Dänische übersetzt werden müssen, wird SkandinavistInnen wohl ein ewiges Rätsel bleiben. Eine dem nordeuropäischen Kulturkreis gewidmete Buchreihe wie diese, die sich zudem an ein Fachpublikum richtet, müßte eine Kompetenz in allen drei Sprachen eigentlich voraussetzen können. Eine kleinere Irritation besteht darin, daß man für alle bibliographischen Angaben, ob für Primär- oder Sekundärliteratur, auf den letzten Band verwiesen wird. Es wäre sicherlich besser gewesen, die Bände unabhängig voneinander zu konzipieren. Davon abgesehen liegen hier durchgehend gut geschriebene, unterhaltsame und faszinierende sechshundert Seiten vor. Sie lesen sich leicht, viele Randkommentare und zahlreiche ungewöhnliche und witzige Illustrationen lockern den Text auf.
Vier weitere Bände sind geplant und sollen in den nächsten zwei Jahren erscheinen, einer zum 19. und zwei zum 20. Jahrhundert; der letzte Band soll das bereits erwähnte biobibliographische Nachschlagewerk werden. Das ist viel – und man kann sich getrost darauf freuen.
„I Guds navn. 1000–1800. Nordisk kvindelitteraturhistorie 1“ (Im Namen Gottes. Frauenliteraturgeschichte in Skandinavien, Band 1). Herausgegeben von Elisabeth Moller Jensen, Eva Haettner Aurelius und Anne-Marie Mai. Verlag Rosinante, Kopenhagen 1993.
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