Zufälle und andere Todesarten

Am Rand des Eises: Drei Romane von Jan Kjaerstad, Peter Ho/eg und Pavo Haavikko  ■ Von Thomas Fechner-Smarsly

Erzählen, so raunt es seit geraumer Zeit, lasse sich nur noch von den Rändern her. Im Zentrum der Zivilisation hingegen habe sich diese Kunstfertigkeit zu einem monotonen Grundrauschen verflüchtigt. Skandinavien gehört zum Zentrum wie zur Peripherie. Ob es dadurch mit einem doppelten Blick ausgestattet ist, wäre die Frage. Drei Romane begeben sich zumindest auf Außenposten der Zivilisation: auf die Nachtseite einer norwegischen Großstadt, in die falsche Idylle eines finnischen Tales und die Kälte des grönländischen Packeises.

In Jan Kjaerstads Roman „Rand“ beginnt alles höchst effektvoll mit einem Gespräch über eine beschnittene Klitoris und die Penislänge des Blauwals, und es endet leicht gelangweilt mit einer Erklärung der Football-Regeln. Für letztere interessiert sich der Protagonist des Buches zwar kaum, dennoch ist er ein Sportsmann – auf seine Art.

Tagsüber Computerspezialist und Top-Angestellter in einem Konzern, flaniert er des Nachts durch die Straßen von Oslo, über die Brachflächen und Baustellen, und befördert auf mehr oder weniger sensible Weise allerlei Mitbürger aus der besten aller Welten. Zufallsbekanntschaften, die er auf seinen Gängen durch die Wildnis der Großstadt trifft – wobei er zum Dank für jedes interessante Gespräch zur finalen Verabschiedung ansetzt: Mal ist es ein heruntergefallenes Klappmesser, mal ein Schal, den ein Opfer trägt, mal eine Hutnadel, die er zu weit durch ein Ohr steckt. Die Mittel bieten sich ihm ebenso zufällig dar wie die ahnungslosen Opfer; er selbst hält sich indessen für einen ganz normalen, dabei äußerst aufgeschlossenen Menschen. Jedenfalls nicht für einen Meuchelmörder und pathologischen Fall.

Das freilich denkt der Leser – und sitzt in der Falle, wird er doch zum Komplizen gemacht, der durch die monologisierenden Gehirnwindungen des Serienkillers gezwungen wird, in der Hoffnung, es möge sich Sinn und Zusammenhang in den Untaten einstellen. Das hofft absurderweise auch der Täter. Zunächst mit Neugier, bald mit wachsendem Mißmut verfolgt dieser den ergebnislosen Fortgang der Ermittlungen, die mal auf eine mafiöse Organisation, mal auf internationale Terroristen weisen. Als alles nichts hilft, wechselt er sogar den Job, er bewirbt sich bei der Polizei und wird, als Fachmann für Datenvernetzung, mit der Bearbeitung des eigenen Falles betraut: Der Mörder sucht sich selbst.

Erklär mir die Regeln

Ein hübscher Einfall und noch dazu raffiniert dargeboten. Was sich wie ein Kriminalroman anläßt, funktioniert im Grunde nach dessen Umkehrprinzip. Ist doch der Täter von Anfang an klar, die Suche nach ihm so vergeblich wie – wenigstens für den Leser – unnötig, jener jedoch, so der beabsichtigte Aberwitz, auf der dringenden Suche nach einem möglichen Motiv. Besser gesagt: Der Ich-Erzähler stößt auf immer neue Beziehungen der Opfer untereinander, mögliche Lösungen, Deutungen, Erhellungen des komplexen Falles. Sie sind alle interessant und führen nirgendwo hin.

Jan Kjaerstad, 1953 geboren, Kritiker, langjähriger Herausgeber der führenden Literaturzeitschrift und einer der bekanntesten Autoren Norwegens, riskiert viel mit diesem Roman. Und er muß viel riskieren, weil er viel will: den Bruch mit dem herkömmlichen Erzählen und dessen Sinnstiftung. Aber am Ende widerlegt er sich selbst. Nicht einmal so sehr, weil das Zufallsprinzip allzu kalkuliert erscheint, das auf den Effekt Berechnete auch für den Leser berechenbar bleibt. Sondern weil Kjaerstad sein Ziel tatsächlich erreicht und das Erzählen aushebelt, ohne darauf zu verzichten.

Dadurch bleibt alles seltsam flach und gleichmäßig im Tonfall – ein interessanter Versuch und ein über weite Strecken langweiliges Buch. Daran ändert letztlich auch die kumpelhafte Freundschaft des Protagonisten zum Cheffahnder nichts mehr. Wobei der Leser wenigstens denkt, hofft, fürchtet, er möge diesen auch noch abmurksen, und dabei weiß, daß der das natürlich nicht tun wird. Und hier deckt sich die enttäuschte Erwartung mit der erfüllten. So sitzen die beiden in dumpfer Eintracht vor dem Fernsehschirm und glotzen ein Footballmatch, der Mörder und der Bulle. Und der „beginnt geduldig, zum weiß Gott wievielten Mal, mir die Regeln zu erklären. Ich lehne mich im Stuhl zurück, höre nicht zu.“

Apropos Regeln: Noch jemand, der sich nicht daran hält, wurde von dem jungen dänischen Schriftsteller Peter Ho/eg in die Welt gesetzt und hört auf den bürgerlichen Namen Smilla Jaspersen. Fräulein Smilla, bitteschön (und als solche ja längst in aller Munde und in den Bestsellerlisten). Als eine Mischung aus Michel Foucault und Pippi Langstrumpf hat sie ein dänischer Kritiker kürzlich bezeichnet. Fräulein Smilla ist Mitte dreißig, klein und durchaus hübsch, dabei alleinstehend und die Tochter eines international renommierten Arztes und einer grönländischen Robbenfängerin. Nachdem die Mutter auf der Jagd umkam, wuchs sie beim Vater auf und ist daher in der wilden wie in der zivilisierten Welt zu Hause. Sie liest Euklids „Elemente“ und erspürt noch im Dämmerlicht die Tragfähigkeit des Eises anhand seiner Farbe. Als leibhaftige Verkörperung kultureller Differenz besitzt Fräulein Smilla ein Gespür für den Moment, in dem die Dinge in Unordnung geraten. Zudem hat sie „eine Schwäche für Verlierer. Für Invaliden, Ausländer, den Klassendicken, alle, mit denen nie jemand tanzt. Für sie schlägt mein Herz. Vielleicht, weil ich immer gewußt habe, daß ich irgendwie immer eine von ihnen sein werde.“

Ins Herz der Finsternis

Als eines Tages Jesaja, der neunjährige Sohn ihrer besten Freundin, vom Dach einer Lagerhalle fällt, traut sie dem Unfallbefund nicht. Wie auch, wo der Junge an Höhenangst litt und sich schon in der zweiten Etage unter Schweißausbrüchen am Geländer festkrallen mußte. Jesaja war Eskimo. Und er interessierte sich für den Tod seines Vaters, der auf einer Expedition nach Grönland unter mysteriösen Umständen ums Leben kam. Als irgendwer Smilla mit mehr oder weniger freundlichem Nachdruck von der Weiterverfolgung des Falles abhalten will, setzt sie natürlich erst recht nach. Und muß sich von brennenden Schiffen retten, in eisgekühltem Wasser schwimmen und am Ende selber eine Expedition unternehmen – nach Grönland. Eine Expedition ins Herz der Finsternis, wo sie auf allerlei kriminelle Energie trifft.

Wir geben es ja gerne zu: Fräulein Smilla ist uns, trotz anfänglicher Skepsis, zur sympathischsten Person geworden, die uns in jüngster Zeit – wenigstens literarisch – untergekommen ist. Da übersehen wir gerne ihre gelegentliche Plapperhaftigkeit und ein offenbares Faible Herrn Ho/egs für allerlei Accessoires der Eskimomode wie Pelzmützen und Kamiken. Sind dagegen dankbar für manch prägnante Erkenntnis über die europäischen Stämme: „Ich bleibe ganz still sitzen. Es ist immer interessant, Europäer der Stille zu überlassen. Für sie ist sie eine Leere, in der die Spannung steigt und ins Unerträgliche wächst.“

Es ist immer interessant, sich einem solchen Buch zu überlassen, dem warmherzigen, dabei unterhaltsamen Versuch, Kopf und Bauch miteinander in Einklang zu bringen. Einem Buch, das den Rand ins Zentrum verlegt, indem es die detektivische, also rationale Lektüre der Spuren und Zeichen mit einem zusätzlichen Sinn ausstattet: mit dem nötigen Instinkt.

Gegen Fräulein Smilla ist Fleur, gelinde gesagt, eine Göre. Die Stellung ihres Erzeugers Paavo Haavikko in der finnischen Literatur indessen kaum zu überschätzen. 1931 geboren, ist er nicht nur Autor von Gedichten, Erzählungen, Romanen, Theaterstücken, sondern daneben langjähriger Lektor und seit einiger Zeit auch Herr im eigenen Verlag Art House.

Dort erschien auch sein Buch „Fleurs mittlere Reife“, ein lakonisches Anti-Idyll auf die familiäre Harmonie und auf das bezaubernde Gartenhaus in beschaulicher Randlage mit Namen Finnland. Amüsiert bis zur Giftigkeit, desillusioniert bis zur Melancholie, verblendet bis zur Lächerlichkeit, beschreiben vier Personen die verwickelten Verwandtschaftsbeziehungen und deren Sollbruchstellen. Der verstorbene Onkel Theo, der Großvater, der Vater und schließlich Fleur selbst. Fleur, die vor allem zweierlei will: ihre mittlere Reife erwerben und ihre Unschuld verlieren.

Als sie auf die naive Frage an den Vater, was, bitteschön, denn Inzest sei, von diesem zur Antwort erhält: „Unpassendes Betragen im Familienkreis“, nimmt sie sich vor, sich unpassend zu betragen. Fleur nimmt sich Onkel Theo vor, und das gleich doppelt: Sie verliert ihre Unschuld, er dafür sein Leben, als er sich beidfüßig in einer von Fleur eigens ausgelegten Telefonschnur verwickelt und solchermaßen gefesselt ins Schwimmbad stolpert. Fleur indessen verwickelt sich, vom vermögenden Onkel Theo zur Alleinerbin ernannt, noch in eine Reihe anderer Todesfälle, deren Aufklärung allerdings an der (vermeintlichen) jugendlichen Unschuld abperlt.

Ein merkwürdiges Buch über den Segen familiärer Anarchie, aber auch über die Schrecken der Jugend; jene freilich, die sie selbst verbreitet, allen voran Fleur, deren Hänseleien den Klasseneinsamen in den Selbstmord treiben, und die dem Bruderherz die Überdosis besorgt. Noch ein Buch über Randfiguren der Gesellschaft ohne erkennbare Moral? Oder eine herzlose Denkschrift an die heutige Jugend? Mit einem Blümelein so ziemlich auf der Kippe.

Jan Kjaerstad: „Rand“. Roman. Aus dem Norwegischen von Angelika Gundlach. Eichborn Verlag. Die Andere Bibliothek, Band 110, 406 Seiten, geb., 48 DM

Peter Ho/eg: „Fräulein Smillas Gespür für Schnee“. Roman. Aus dem Dänischen von Monika Wesemann. Hanser Verlag, 480 Seiten, geb., 45 DM

Paavo Haavikko: „Fleurs mittlere Reife“. Roman. Aus dem Finnischen von Gisbert Jänicke. Residenz Verlag, 118 Seiten, geb., 36 DM