Die Rückkehr der „Nanking-Lüge“

Japans Justizminister stellt die Schuld seines Landes im Zweiten Weltkrieg in Frage und muß seine Erklärung nach heftigen Protesten der asiatischen Nachbarn zurücknehmen  ■ Aus Tokio Georg Blume

Der historische Begriff „Nanking“ verleitet in Japan zu ähnlichem Mißbrauch wie der Begriff „Auschwitz“ in Deutschland. In Bonn würde kein Minister lange Zeit überleben, der lauthals verkündet: „Ich glaube, das Massaker von Auschwitz ist eine Erfindung.“ Mit genau diesen Worten – man vertausche nur Auschwitz mit Nanking – empfahl sich freilich in dieser Woche der japanische Justizminister Shigeto Nagano. Ihm schien dabei kaum bewußt, daß er damit die junge japanische Regierung, deren Premierminister Tsutomu Hata in diesen Tagen in Bonn weilte, in ihre erste handfeste innen- und außenpolitische Krise stürzte.

Die Ereignisse nahmen schnell ihren Lauf: In Tokio zog Nagano am Freitag alle seinen umstrittenen Aussagen zurück und gelobte Besserung, ohne jedoch seinen Rücktritt einzureichen. In Bonn zeigte sich Premier Hata peinlich berührt, während in Seoul bereits die Angehörigen koreanischer Kriegsopfer Eier auf die japanische Botschaft warfen.

Nicht ganz so ungestüm, aber in der Sache ähnlich hart, ging man in Peking mit dem Fall zu Gericht: Zwar nehme man den Rückzug Naganos zur Kenntnis, sagte ein Sprecher des chinesischen Außenministeriums, doch machten sich japanische Politiker offenbar immer noch ein falsches Geschichtsbild. Gänzlich hilflos antwortete das Tokioter Außenministerium, eine Antwort auf die ausländische Kritik könne erst nach der Rückkehr Hatas aus Europa erfolgen.

Das alles erinnerte an jene Zeiten, in denen in Tokio noch offiziell über die Vergangenheit geschwiegen wurde. Gelegentlich mochten hochrangige japanische Regierungspolitiker darauf anspielen, daß sich Japan aufgrund seiner Kriegsgeschichte nichts vorzuwerfen habe, nachdem Anfang der achtziger Jahre der Schulbuchstreit zwischen Japan und China die Konfliktlinien aufgezeigt hatte. Peking forderte damals von Tokio eine bessere Unterrichtung der Schulkinder über den japanischen Angriffskrieg von 1937. Tokio aber wehrte sich bereits gegen die Vokabel „Angriffskrieg“.

Ebenso uneinsichtig zeigte sich die japanische Regierung hinsichtlich der Klagen koreanischer Frauen, die im Zweiten Weltkrieg von der japanischen Armee systematisch vergewaltigt worden waren. Die Kehrtwende in Tokio erfolgte schließlich im vergangenen August, als die Koalitionsregierung unter Morihiro Hosokawa die seit Jahren regierenden Liberaldemokraten ablöste. Hosokawa sprach sich gleich bei seiner ersten Pressekonferenz als Regierungschef für ein klares japanisches Schuldbekenntnis zu „Aggressionskrieg und Kolonialherrschaft“ im Zweiten Weltkrieg aus und besuchte daraufhin Südkorea und China. Noch vergangene Woche hatte das neue Kabinett unter Hata gelobt, die Versöhnungspolitik Hosokawas fortzuführen.

Den Beobachtern war freilich kaum entgangen, daß unter Hata eine deutlicher Rechtsrutsch erfolgte. Die Sozialdemokraten verließen die Regierung. Ehemalige Liberaldemokraten füllten die Mehrheit der Kabinettsplätze. In solcher Gesellschaft glaubte sich der neue Justizminister offenbar frei, seine vormals von den gleichen Kollegen akzeptierten historischen Auslegungen zu präsentieren.

Mit der Wahrheit hatte das nichts zu tun, wohl aber mit einem Test für die politische Stimmungslage. In der Weltkriegsgeschichte steht Nanking für die furchtbarste aller Schandtaten der kaiserlichen Armee. Als japanische Truppen am 13. Dezember 1937 in Nanking einzogen und der chinesische Widerstand zerbrach, begannen die eigentlichen Greuel, als die Schlacht schon vorbei war: Unter dem Vorwand, alle chinesischen Soldaten hätten sich als Zivilisten verkleidet, verfügten die japanischen Befehlshaber die Ausrottung der Bevölkerung von Nanking.

Sechs Wochen währte das Massaker, während dessen nach Angaben des Tokioter Kriegsverbrechergerichts 142.000 Zivilisten ermordet wurden. Der Oberbefehlshaber der japanischen Truppen in Nanking, Matsui Iwane, erhielt deshalb 1948 die Todesstrafe – der Justizminister hatte das wohl kaum vergessen. So liegt es in den nächsten Tagen an Premier Hata, über die Entlassung seines Ministers zu entscheiden. Bleibt Nagano im Kabinett, erleidet Japans neue Asienpolitik einen schweren Glaubwürdigkeitsverlust.