Eine Odyssee durch die Arztpraxen

Unter den Medizinern ist das Chronische Müdigkeitssyndrom kaum bekannt / Häufig werden die Patienten als Simulanten eingestuft oder mit Psychopharmaka behandelt  ■ Von Detlef Schmalenberg

Heidi Lehmacher ist oft sehr müde, regelrecht ausgebrannt, hat Depressionen. Manchmal jedoch ist sie für kurze Zeit völlig überdreht, wie aufgeputscht. Weil das schon seit Jahrzehnten so geht, mußte die 49jährige Kölnerin 1978 ihren Beruf als Lehrerin aufgeben. Die Ärzte, die ihr immer wieder Psychopharmaka verschrieben, haben ihr gesagt, sie solle sich doch psychiatrisch behandeln lassen.

Doch die Mediziner haben sich geirrt. Möglicherweise seit ihrem dreizehnten Lebensjahr leidet Heidi Lehmacher an einer Krankheit, die in Deutschland bisher kaum jemand kennt: am Chronischen Müdigkeitssyndrom (Chronique Fatique Syndrom, CFS), an dem nach Schätzungen aus den USA 1,5 Prozent der dortigen Bevölkerung erkrankt sind.

In der Fachwelt wird das Leiden auch als Aids-Non-HIV genannt: eine Immunschwächekrankheit also, die nicht zur Aidserkrankung führt und auch nicht durch das HI- Virus ausgelöst wird. Doch gefährlich ist das Chronische Müdigkeitssyndrom, das 1988 vom National Center of Deseases im US-Bundesstaat Atlanta als Krankheit anerkannt wurde, dennoch.

Außer psychischen Beeinträchtigungen, krassem Leistungsabfall sowie Muskel- und Gelenkschäden könnten sich unter anderem auch Lymphknotentumore und „Erkrankungen des Nervensystems bis hin zu Multiple-Sklerose-ähnlichen Erscheinungen“ entwickeln, erläutert Professor Rainer Ihle, Leiter des Düsseldorfer Instituts für angewandte Immunologie und Umweltmedizin.

Eine Übertragbarkeit des Müdigkeitssyndroms ist laut Bundesgesundheitsministerium wissenschaftlich nicht bewiesen, sondern „eher fragwürdig“. Und lebensbedrohend sei die Krankheit auch nicht, berichtet Ursula Schönfeld vom Berliner Robert-Koch-Institut (RKI). Nach bisherigen Erkenntnissen würden sich über 85 Prozent der Patienten wieder vollständig erholen, oft jedoch erst nach jahrelanger Krankheit und zahlreichen Rückfällen.

Professor Ihle, der es sich zur Aufgabe gemacht hat, das Müdigkeitssyndrom zu erforschen, klagt über die „Sorglosigkeit der Behörden mit dieser schweren Krankheit“. So sei etwa bei der allgemeinen Diskussion über HIV-verseuchte Blutkonserven das mögliche Gefährdungspotential von CFS bisher vollkommen übersehen worden.

Bei Blutübertragungen wird das gesamte genetische Material des Spenders weitergegeben. Und CFS-Betroffene können zahlreiche Krankheitserreger übertragen. Heidi Lehmacher drückt es drastischer aus: „Ein Wissenschaftler hat mir gesagt, mein Blut ist Sondermüll.“ Insgesamt sieben verschiedene Krankheitserreger seien bei ihr gefunden worden, alle übertragbar. „Soll ich also Blut spenden?“ fragt die Kölnerin und fordert, daß ihre Krankheit in den Untersuchungsbogen der Blutspendedienste aufgenommen wird.

Doch der müsse auf die „wesentlichen Infektionsindikatoren“ beschränkt bleiben, sonst werde der Umfang gesprengt“, entgegnet Hartmut Strunz vom DRK-Landesverband Rheinland. Wenn in Tests nach Tausenden krankheitserregenden Mikroorganismen gesucht würde, gäbe es keine Blutspenden mehr. Natürlich dürfe niemand mit CFS Blut spenden. In den Richtlinien der Bundesärztekammer sei zudem eindeutig verankert, daß alle bei den Erkrankten gefundenen Erreger ohnehin eine Spenderfähigkeit ausschließen. Wie bei anderen Infektionsleiden auch, würde die Einhaltung der Richtlinien vom Entnahmearzt bei der üblichen Untersuchung von der Spende überprüft. Die Ärzte jedoch hätten zumeist keine Ahnung von der Immunschwächekrankheit, klagt der RKI-Mitarbeiter Arnold Hilgers. Und der Blutbild-Test, der bei den Spendern regelmäßig durchgeführt werde, sei völlig unzugänglich: „Da sieht man doch gar nichts, zahlreiche Viren bleiben unentdeckt.“ Dabei könne CFS von erfahrenen Medizinern bereits anhand eines standardisierten Fragekatalogs ohne aufwendige Laboruntersuchungen diagnostiziert werden.

Ausgelöst wird die Krankheit vermutlich durch „chronisch aktive Infektionen“: Häufig entwickelt sie sich zunächst wie eine verschleppte Grippe, die einfach nicht weggehen will. Neurologen indes mutmaßen auch heute bisweilen noch, Ursache der Immunschwäche seien alleine psychische Faktoren. Gerade in den USA liefern sich die Verfechter der psychischen und physischen Ursachentheorien zumeist erbitterte verbale Auseinandersetzungen.

Psychologisiert wurde auch die CFS-Erkrankung von Constantin Baum. Etwa zweieinhalb Jahre ist es her, als der heute 19jährige Kölner zum ersten Mal wegen ständiger Müdigkeit und Konzentrationsmangels zum Arzt ging. Er sei psychisch labil, wurde ihm damals gesagt. Andere Mediziner bestätigten das Urteil und verordneten Psychopharmaka. Als Baum in einer Klinik als „desoziale Persönlichkeit mit Kontaktschwierigkeiten“ therapiert werden sollte, lehnte er weitere Psychopillen ab. Nur durch Zufall kam er durch einen Aufsatz in einer Fachzeitschrift auf die Spur seiner wirklichen Krankheit.

Für Professor Ihle ist dies nichts Ungewöhnliches. Bei ihm landen zahlreiche Patienten, die eine „langjährige Odyssee durch Arztpraxen und Krankenhäuser“ hinter sich haben: „Und alle wurden falsch behandelt.“

Auf einen einzigen Erreger konnte die Krankheit bisher nicht zurückgeführt werden. Bei nahezu allen Erkrankten wurden außer bestimmten Bakterien auch noch Viren gefunden. Die bisher ungeklärte Frage ist, wieso die Infektionen nicht wieder verschwinden. Bei CFS-Kranken lösen sie anscheinend Durchblutungsstörungen im Großhirn und Entzündungen im Herzmuskel aus. Vermutungen gehen dahin, daß die Betroffenen Störungen im Immunsystem unter Streß nicht mehr in den Griff bekommen. Die Abwehr bricht zusammen, und CFS entsteht. Ein Allheilmittel gibt es bisher nicht.

Heidi Lehmacher aber will sich nicht tatenlos ihrem Schicksal überlassen. Im September 1991 gründete sie eine Selbsthilfegruppe. Etwa 200 Leidensgenossen haben sich ihr inzwischen schon angeschlossen. „Ständig melden sich Menschen bei uns, die von uninformierten Ärzten als Simulanten abgestempelt wurden“, erzählt sie.

Außer Trost erhalten die Betroffenen Hilfe bei Problemen mit den Krankenkassen. In einem Schreiben hat die Gruppe zudem von Bundesgesundheitsminister Horst Seehofer gefordert, er solle Gelder zur Erforschung des Chronischen Müdigkeitssyndrom bereitstellen.

Auskünfte erteilt: Heidi Lehmacher, Robertstr. 6, 51145 Köln,

Tel.: 02203/14672 oder

Elke Uhlisch, Lübener Weg 3, 53119 Bonn, Tel.: 0228/660233