■ Zwei Trinker und zwei Polizisten mit Persönlichkeitsproblemen
: Tod in der Ausnüchterungszelle

London (taz) – Die Geschichte, die der Angeklagte ihnen auftischte, erschien den Geschworenen im Londoner Gericht „Old Bailey“ denn doch zu unwahrscheinlich. Sie verurteilten den 46jährigen Malcolm Kennedy nach zwölfstündiger Beratung einstimmig zu neun Jahren Gefängnis, weil er in der Zelle des Polizeireviers im Westlondoner Bezirk Hammersmith seinen Mitgefangenen Patrick Quinn getötet haben soll. Sie erkannten auf Totschlag und hoben damit das Urteil der ersten Instanz auf. Dort war Kennedy wegen Mordes zu lebenslanger Haft verurteilt worden.

Die Tat liegt bereits mehr als drei Jahre zurück. Am 23. Dezember 1990 war Quinn, ein 56jähriger arbeitsloser Ire, von der Polizei zur Ausnüchterung eingesperrt worden, weil er fast bis zur Bewußtlosigkeit getrunken hatte. Auch Kennedy hatte in dieser Nacht zuviel getrunken. Es kam im Haus seiner Tante zum Streit, den die Polizei schlichten mußte. Sie nahm Kennedy mit und sperrte ihn zu Quinn in die Zelle. Am nächsten Morgen war Quinn tot: Er hatte 33 Rippenbrüche, einen eingedrückten Kehlkopf, seine Nase und sein Kiefer waren gebrochen. Kennedy war mit Quinns Blut beschmiert. Da nach Aussagen der Polizei die Zelle die ganze Nacht abgeschlossen war, schien der Fall klar.

Doch Kennedy behauptet, er erinnere sich trotz seiner Trunkenheit genau, daß mitten in der Nacht ein Polizeibeamter die Zelle betreten und Quinn zusammengeschlagen habe. Als er, Kennedy, dazwischengehen wollte, versetzte ihm der Polizist einen Schlag über den Kopf. Kennedys Anwalt Michael Mansfield – der die „Guildford Four“ und „Birmingham Six“ vertreten hatte, die mehr als anderthalb Jahrzehnte unschuldig im Gefängnis saßen – hielt den Geschworenen vor, es sei doch recht unwahrscheinlich, daß „dieser ruhige, unbescholtene Mann still in seiner Zelle sitzt und sich plötzlich wie Doktor Jekyll in einen psychopathischen Killer“ verwandle und über einen völlig Fremden herfalle. Die Geschworenen glaubten dem Anwalt kein Wort. Richter Swinton Thomas wertete es gar als strafverschärfend, daß er den guten Namen der diensthabenden Polizisten in den Dreck ziehen wollte: „Sie haben keine Reue gezeigt für das, was Sie getan haben“, warf er Kennedy vor.

Mit dem guten Namen der Polizisten ist es freilich nicht allzuweit her. Inzwischen hat sich nämlich herausgestellt, daß die polizeilichen Aufzeichnungen aus der betreffenden Nacht erhebliche Ungereimtheiten darüber aufweisen, wo sich die einzelnen Beamten aufgehalten haben. Darüber hinaus sind einige Unterlagen verschwunden – unter anderem das Buch, in dem festgehalten wurde, wer die Zelle mit den beiden Gefangenen betreten hatte. Selbst der Richter mußte einräumen, daß „vielleicht menschliche Fehler gemacht“ worden seien, doch er führte das auf „Konfusion“ zurück. Michael Mansfield sagte es deutlicher: „Neue Beweise deuten darauf hin, daß die Polizeibeamten Lügen darüber erzählt haben, wo sie in dieser Nacht waren.“

Die beiden Polizisten, um die es vor allem geht, sind Paul Giles und Edward Henery. Im ersten Berufungsverfahren im vergangenen Jahr fiel Giles dadurch auf, daß er ständig an seinem Wasserglas nippte. An einem einzigen Nachmittag trank er zwölf Liter. Bei einer ärztlichen Untersuchung, die das Gericht angeordnet hatte, stellte sich Merkwürdiges heraus: Giles glaubte, das Wasser würde ihm magische Kraft verleihen und ihm helfen, Kontrolle über Mansfields Gedanken zu erlangen. Außerdem kam ans Licht, daß Giles zu Gewalttätigkeiten besonders gegen Frauen neigt. Der Prozeß wurde dann überraschend abgebrochen, weil die Polizei plötzlich ein angeblich verschwundenes Notizbuch im Revier von Hammersmith gefunden hatte. Von der Existenz desselben – ganz zu schweigen vom Inhalt – hatte die Verteidigung bis dahin nichts gewußt.

Bei dem neu angesetzten Verfahren konnte Giles jedoch nicht mehr aussagen. Er ist inzwischen aus der Polizei ausgeschieden und „treibt sich mit obdachlosen Alkoholikern in der Londoner Innenstadt herum“, wie es in den Akten heißt. Einmal war er vorübergehend wegen Amtsanmaßung festgenommen worden, weil er jemanden verhaften wollte. Der Polizei- Psychiater sagte, daß Giles als Zeuge nicht in Frage komme, da er ständig mit starken Beruhigungsmitteln vollgepumpt sei und unter Verfolgungswahn leide: Er glaubt, die IRA sei hinter ihm her. Außerdem habe er schwere „Persönlichkeitsprobleme“. Ende vergangenen Jahres habe er versucht, eine Ärztin zu erwürgen. Die Verteidigung ließ ein Gegengutachten erstellen, woraus hervorging, daß Giles durchaus in der Lage sei, eine Aussage zu machen. Er wurde aber vom Gericht nicht vorgeladen. Ein anderer Polizist, der in der betreffenden Nacht Dienst hatte, machte ebenfalls keine Aussage. Auch er ist nicht mehr bei der Polizei, sondern studiert in Wales. Er weigerte sich, vor Gericht zu erscheinen, nachdem ihm zu Ohren gekommen war, daß Mansfield ihn über die 17 noch offenen Disziplinarverfahren wegen Gewalttätigkeiten befragen wollte.

„Diese Polizisten sind des Mordes, des Meineids und der Strafvereitelung beschuldigt worden“, sagte Richter Thomas in der Urteilsbegründung. „Sie sind voll und ganz rehabilitiert worden. Das Urteil der Geschworenen bedeutet, daß der Angeklagte für Quinns Tod verantwortlich ist – und keiner der Polizeibeamten.“ Kennedys Anwälte haben angekündigt, daß sie in die Berufung gehen werden. Ralf Sotscheck