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„In vier Jahren bin ich viel gewachsen“

Mächtiger und größer wollte sie werden, die ungarische Regierungspartei MDF / Doch bei den Parlamentswahlen wuchs die sozialistische MSZP weit über die Konservativen hinaus  ■ Von Keno Verseck

Budapest (taz) – In der Zentrale der ungarischen Regierungspartei wurde es am Sonntag noch vor Mitternacht einsam. Die Politiker des „Ungarischen Demokratischen Forums“ konnten sich nicht einmal mehr zu einem obligatorischen Lächeln vor der Handvoll Journalisten durchringen, nachdem feststand: Das MDF hat die Hälfte seiner WählerInnen verloren und liegt bei zwölf Prozent, die Regierung ist abgewählt. Parteianhänger verließen das Gebäude mit bedrückten Gesichtern und murmelten ironisch Forum-Wahlkampfparolen vor sich hin: „In vier Jahren bin ich viel gewachsen...“

Ein haushoher Sieg für die Sozialisten, ein erfolgreicher zweiter Platz für die größte liberale Oppositionspartei und eine schwere Niederlage des MDF – so lautet das Ergebnis der zweiten freien Parlamentswahlen in Ungarn nach 1989. Mit 69 Prozent lag die Wahlbeteiligung höher als vor vier Jahren. Als ausgeschlossen gilt nicht, daß die Sozialisten im zweiten Wahlgang sogar eine Parlamentsmehrheit erringen. Am 29. Mai müssen sich die Kandidaten der 176 Wahlkreise Stichwahlen stellen.

Die „Ungarische Sozialistische Partei“ (MSZP) lag mit 32,5 Prozent der abgegebenen Stimmen genau in der Mitte der letzten Prognosen. Landsweit erreichten nur zwei Kandidaten, auch sie von der MSZP, bereits im ersten Wahlgang ein Direktmandat. Allerdings führen die Sozialisten die Ergebnisse fast überall mit großem Vorsprung an und haben so Chancen, eine Parlamentsmehrheit zu stellen.

Bei den Sozialisten herrschte denn auch die ganze Nacht hindurch Siegesstimmung. In Abwesenheit von Parteichef Gyula Horn, der vergangene Woche einen schweren Autounfall erlitten hatte, spielte auch MSZP-Vizepräsident Imre Szekeres auf die MDF- Parole an: „Soviel sind wir in vier Jahren gewachsen.“ Rhythmisches Klatschen begleitete immer wieder den Auftritt hoher MSZP-Politiker. Einige Journalisten hatten sich vorsorgend Parteiabzeichen ans Revers geheftet. Und das mittlerweile als rechtsnational bekannte Fernsehen stellte den Sozialisten zum ersten Mal seit langem angenehme Fragen.

Laut Szekeres haben die Sozialisten jedoch selbst dann, wenn sie am 29. Mai tatsächlich die Mehrheit der Mandate erzielen sollten, nicht vor, alleine eine Regierung zu bilden. Szekeres nannte zwar keine Namen. Doch die MSZP würde am liebsten, wie sie vor den Wahlen angekündigt hat, den SZDSZ-Spitzenkandidaten Gábor Kuncze als Ministerpräsidenten sehen. Parteichef Gyula Horn hat sich nicht als Kandidat für dieses Amt nominieren lassen.

Neben dem erwartungsgemäßen Sieg der Sozialisten gab es durchaus Überraschungen. Der liberale „Bund Freier Demokraten“ (SZDSZ), nach den Wahlen 1990 größte Oppositionspartei, erreichte mit 19,4 Prozent ein besseres Ergebnis als erwartet. SZDSZ- Spitzenkandidat Kuncze bezeichnete es als das Ziel seiner Partei, den Sozialisten im zweiten Wahlgang „etwas von der Schwere ihres Sieges zu nehmen“.

Allen anderen Parteien bescherte die Wahl herbe Enttäuschungen. Die überraschendste Niederlage erlitt mit 7,5 Prozent die einstige Alternativpartei „Bund Junger Demokraten“ (Fidesz), die damit nicht einmal ihr Ergebnis von 1990 wiederholen konnte. Deutlich unter den Erwartungen blieb der bisherige MDF- Koalitionspartner „Christlich Demokratische Volkspartei“ (7,3 Prozent). Die rechtsnationale Kleinlandwirte-Partei konnte lediglich 8,5 Prozent für sich verbuchen. Weniger als anderthalb Prozent bekam die rechtsextreme „Ungarische Gerechtigkeits- und Lebenspartei“ des antisemitischen Dramatikers Istvan Csurka, sie verfehlte die für den Einzug ins Parlament vorgegebene Fünfprozenthürde.

Mit großer Bestürzung nahmen vor allem das MDF und der Fidesz die Ergebnisse zur Kenntnis. Regierungschef Péter Boross machte Montag nacht mit Leichenbittermiene eine Reihe von unpopulären Reformen für die Niederlage verantwortlich. Andere MDF-Politiker ließen ihren Realitätssinn vermissen. Sie sahen die Schuld bei der ihnen gegenüber „feindlich eingestellten“ Presse, die gegen das Forum gehetzt habe.

Beim Fidesz wollte die vernichtende Niederlage zunächst niemand glauben, dann herrschte Sprachlosigkeit und – hinter verschlossenen Türen, wie Sitzungsteilnehmer verrieten – Panik. Noch in der Nacht nahm Parteichef Viktor Orbán die volle Verantwortung für das Wahlergebnis auf sich und bot seinen baldigen Rücktritt an.

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