Insel der Parvenüs

Shakespeares „Sturm“ in München: Die Kammerspiele wandeln sich zu einem biederen Stadttheater  ■ Von Christian Gampert

Ein ziemlich ödes Eiland, das Jürgen Rose da in die Kammerspiele gebaut hat: einen Kunstraum mit geweißten Brandmauern und ein paar aseptisch anmutenden Felsbrocken darin, die auch im Bärenkäfig im Hamburger Zoo liegen könnten. Eine Versuchsstation. Hier leben heißt: Exil. Bücher lesen und auf die Heimkehr warten. Ein hünenhafter Mensch namens Prospero haust dort und träumt die schönsten Racheträume. Zum Beispiel diesen: Orkanartige Winde kommen auf und werfen einmal nicht einen ölführenden Riesentanker, sondern ausnahmsweise die in Staatsgeschäften reisende Regierungsmannschaft des Königreichs Neapel (oder ist es Bayern?) ans Gestade. Dort werden sie sich selbst (und ihrer Blödigkeit und Schlechtigkeit) überlassen, was bisweilen – wir denken da an den landeseigenen großen Korrumpator – recht unterhaltsam sein könnte.

Das Stück heißt „Der Sturm“; bei Wieland, der es 1761 übersetzt hat, hieß es auch noch „Die bezauberte Insel“. In München, in den Kammerspielen, sieht die Eingangsszene so aus: Es ertönt ein seltsames Gefiepe aus Obertönen und Flageolets. Das ist der Sturm. Dann legt man sorgfältig schwarze Stoffbahnen ins weiße Inselreich: ein an den Strand geschwappter Ölteppich (oder vielleicht auch nur eine altersschwache Welle). Das ist auch der Sturm. Dahinter erblickt man die Überlebenden des Schiffbruchs, noch etwas geschockt, aber schon gruppiert wie zum Familienbild. Das muß die Bezauberung sein – oder das, was Dieter Dorn sich darunter vorstellt.

Der faule Zauber wird den ganzen Abend andauern, vier Stunden lang; selten hat eine Inszenierung mehr Statik und Behäbigkeit verbreitet als diese unglückliche Landung auf Prosperos Insel. München liegt sozusagen im Windschatten der Weltgeschichte; man spürt dort kaum einen Hauch. Wiedervereinigung? Politchargen? Mord und Totschlag? Bestochene und Bestechliche? Man hält es in München schon für eine Leistung, ein paar Höflinge in Pumps auf den Affenfelsen herumklettern zu lassen, CSU-Komparserie, eine Regierungsmannschaft wahrhaft Gauweilerschen Geistes. Das sind die Schiffbrüchigen, und sie machen nach ihrer gücklichen Rettung sofort angestrengt Witze. Ansonsten stehen sie effeminiert herum und starren Löcher in die Luft.

„Der Sturm“ ist Shakespeares letztes Stück, ein Abschiedsstück. Prospero, der Alte, den Thomas Holtzmann angenehm zurückhaltend, fast mönchisch spielt, ist nicht nur ein Dichter, Dirigent, Inszenator, der nun den Zauberstab aus der Hand legt; er ist auch eine Art Selbsttherapeut. Indem er seine Widersacher „bannt“, lähmt oder auch enthemmt, setzt er sich in die Lage, deren Gemütsverfassung ebenso zu verstehen wie – indirekt – seine eigene. Indem er auf Rache verzichtet, wird er frei. Prospero, der Wissenschaftler, ist für Shakespeare Anfang des 17. Jahrhunderts nur als Magier denkbar.

Verblüffenderweise nimmt der Mann aus Stratford ganz spielerisch und immerhin 300 Jahre vor Freud die Techniken der Psychoanalyse vorweg: Wiederholen, Erleben, Durcharbeiten und Verstehen. Das (altmodische) Mittel der Hypnose. Die Bearbeitung der Ängste. In Holtzmanns Schauspielkunst sind diese Einsichten immer präsent, und manchmal werden sie von Dorn auch persifliert: Als Prospero seiner Tochter Miranda endlich seine Vertreibung als Herzog von Mailand offenbaren will, ist Töchterlein nicht interessiert. Man möchte den Kindern ja oft was erklären, was diese gar nicht wissen wollen.

Während Prosperos Feinde, die schiffbrüchigen Gecken, mit Ausdauer trauerkloß-tumb oder bemüht geistreich an der Rampe sitzen, finden hinten die jungen Menschen zueinander: ein Hänfling namens Ferdinand und eben Miranda, die noch nie einen Mann sah, aber gleich den ersten toll findet. Unbegreiflich, aber federleicht. Und während Prospero das junge Paar Bäume schleppen läßt, damit es mit der Liebe nicht so einfach sei, schmieden vorn die adligen Papageien schon die ersten Putschpläne.

Vier Stunden lang läßt Dorn diese Parvenüs mit ihren unwitzigen Späßen gewähren. Schlimmer noch: er läßt die Deppen (und potentiellen Mörder) Trinculo und Stephano ihre Besuffski-Mentalität voll auswalzen – Lambert Hamel macht ein paar Faxen und ein dummes Gesicht, während Manfred Zapatka abendfüllend greinen muß und das offenbar komisch findet. Dadurch werden die wahren Hauptfiguren an den Rand gedrängt: vor allem Caliban, der angeblich Wilde, den Axel Milberg zwar dreckverschmiert, aber psychisch seltsam farblos gibt. Milberg zeigt durchaus den kolonisierten Menschen, der aufbegehrt, durch Alkohol gezähmt wird und sich dann rechtsdumpfen Zielen zur Verfügung stellt, so nur ein Rattenfänger die Freiheit verspricht. Aber im Duell mit Prospero, der mit seinem Umerziehungsprogramm ja grandios gescheitert ist und nun dem bösen Indianer die Schuld daran gibt, daß er nicht so zivilisiert ist wie der Kolonisator – da kam mir dieser Caliban eher wie ein etwas ruppiges, aber ganz freundliches Haustier vor.

Gisela Stein ist Ariel, der Luftgeist, der die Freiheit will: wunderbar präzis und leicht, ohne Anmaßung und ohne die (bei der Rolle üblichen) Quirligkeiten. Mal hängt sie wie ein Barockengel von der Decke, mal gleitet sie in eine Gruppe von gleichen Geistern, die sich wie japanische Nô-Spieler durch die Welt schieben. Diese maskierten Wesen bringen auch Steine zum Schweben – und sie spielen, in einer grandiosen Szene, den Verlobten Miranda und Ferdinand eine bedrohlich-schöne Zukunft vor: die Nô-Spieler bewegen ein papierenes Puppenskelett wie einen Embryo, der die Verliebten zu berühren sucht – eine Horrorvision, eine Glücksverheißung.

Solche Kunstmomente retten die Aufführung leider nicht mehr, die sonst meist aus Kunsthandwerk besteht: auch die Nô-Geister verbreiten eine klinisch-fade Atmosphäre; die adeligen Kleiderständer stelzen herum, Prospero spinnt von hinten seine Fäden – aber sein menschenfreundliches Laboratorium wird bei Dieter Dron zum Vakuum. Alles so sauber! So langweilig! So gebildet! Man spricht in München wieder zur Rampe hin. Die Zuschauer halten das für normal.

Düsteres Fazit: Das deutsche Stadttheater lebt – betulich, harmlos, auf hohem Niveau. Die bezauberte Insel ist bei Dieter Dorn nicht mehr Prosperos Eiland, also ein Intellektuellenstaat, sondern die Insel der Parvenüs. Vom Publikum her sind die Kammerspiele das ja schon lang.

„Der Sturm“ von William Shakespeare. Regie: Dieter Dorn. Bühne und Kostüme: Jürgen Rose. Übersetzung: Michael Wachsmann. Mit Thomas Holtzmann, Patrizia Schwöbel, Gisela Stein, Axel Milberg, Lambert Hamel, Manfred Zapatka u.a. Nächste Vorstellungen: 12. und 15. Mai um 17.30 Uhr.