■ Neville Alexander über Südafrika nach der Wahl
: „Das ist das Ende der Sklavenzeit“

Revolutionäre, so der vergangenes Jahr ermordete Generalsekretär der südafrikanischen Kommunistischen Partei, Chris Hani, müßten heutzutage Realisten sein. Dies trifft sicherlich auch auf den Kapstädter Historiker und Erziehungswissenschaftler Neville Alexander (58) zu. Als marxistischer Kritiker der Apartheid von 1963–74 Gefangener auf Robben Island, befaßte sich Alexander nach seiner Freilassung sehr viel mit den Niederungen der Praxis: „grassroots“-Projekten in der Erwachsenenbildung und im sprachpolitischen Bereich. Seit 1979 lehrt Neville Alexander wieder an der Universität Kapstadt. Er gründete nicht nur eine eigene „Arbeiterpartei“, die auch bei den Wahlen antrat und laut Alexander „einige tausend Stimmen“ in der Kapregion erhielt. Er wird auch radikaler Kritiker der neuen Regierung unter dem ANC bleiben. Neville Alexanders Verhaftung und Verurteilung war übrigens in Deutschland Beginn der Anti-Apartheid- Bewegung, denn Alexander hatte von 1958–1961 in Tübingen studiert und über Gerhart Hauptmanns dramatische Werke promoviert. Das Gespräch wurde in Berlin geführt.

taz: Wie fühlte man sich als langjähriger vehementer Kritiker der Apartheid am Tag der Wahl?

Neville Alexander: Das war selbstverständlich ein großartiges, ein welthistorisches Ereignis. Südafrika war doch das Land, in dem die Sklaverei gesetzlich verankert war. Die Gewährung des Wahlrechts für schwarze Südafrikaner ist das Ende der Sklavenzeit. Symbolisch steht dieses Ereignis tatsächlich für die endgültige Emanzipation der Sklaven. Es bedeutet auch das Ende des Kolonialzeitalters auf dem afrikanischen Kontinent. Und es wird hoffentlich auch meinen, daß die rassistische Ideologie als Herrschaftsinstrument jetzt beseitigt worden ist. All dies bestimmte meine Gefühle, als ich meine Stimme abgab. Es gab aber auch ein Moment der Ambivalenz. Weil ich Gesellschaftswissenschaftler bin, ist mir sehr bewußt, daß uns große Probleme bevorstehen und daß dieser Akt der Machtübernahme zugleich ein Akt der Entmachtung für die große Masse der Bevölkerung bedeutet.

Sehen Sie den ANC nach wie vor als populistische Organisation, die nicht die Interessen der Mehrheit vertritt? Und dies nur, weil er sich auf einen Kompromiß mit den Weißen einließ?

Das Image des ANC, gerade im Ausland, als radikaler, gar marxistischer Befreiungsbewegung stimmte nie. 1960, nach dem Parteienverbot, griff der ANC zu den Waffen, aber nicht aus der Logik des Klassenkampfes heraus, sondern nur, weil er nicht anders agieren konnte. Der ANC war immer eine Befreiungsbewegung der Mittelklasse, der petite bourgeoisie. Wie Nelson Mandela, mit dem ich zusammen auf Robben Island saß und den ich sehr schätze, immer betonte: Man wolle die südafrikanische Regierung nicht stürzen, man wolle sie lediglich an den Verhandlungstisch zwingen.

Wer verhandelt, ist bourgeois?

Der ANC hat als führende Kraft des Widerstands selbstverständlich die größte Rolle bei der Befreiung gespielt. Aber er hat seine Freiheit dadurch begrenzt, daß er sich bereit erklärte, im Rahmen des kapitalistischen Systems weiterzumachen. Man braucht nur die Landfrage zu betrachten, wo man auch in der neuen Verfassung akzeptiert, daß alles beim alten bleibt. 60.000 weiße Farmer und Aktiengesellschaften besitzen fast 90 Prozent des Landes! Die Eigentumsverhältnisse, und damit die Machtverhältnisse, bleiben unangetastet. Auch der Sicherheitsapparat wird nicht gesäubert, und der Bürokratie setzt man einfach eine schwarze zur Seite.

Sie suggerieren, der ausgehandelte Konsens sei ein Ausverkauf. Aber was wäre in dieser historischen Situation, nach dem Ende des Kommunismus, die Alternative gewesen?

Es gibt keine Alternative! Das ist ja die Tragödie, daß wegen des Triumphalismus der freien Marktwirtschaft auf der ganzen Welt postkapitalistische Konzepte nicht gerade Hochkonjunktur haben. In Südafrika glaubt man aber noch an den Sozialismus, er ist eine Art Erlösungsideologie. Daher haben wir eine bessere Ausgangsbasis für Kapitalismuskritik als in Europa. Derzeit erleben wir den Übergang von einem rassistischen zu einem multirassischen kapitalistischen System. Nur eine internationale Krise könnte nochmals zu Einsichten auf der Welt führen. Ich hoffe, daß nicht erst ein ökologisches Desaster geschehen muß, bevor man erkennt, daß dieses System falsch ist. Der Kapitalismus jedenfalls wird niemals unsere fundamentalen Probleme lösen können.

Wie schätzen Sie die Rolle des ANC in der künftigen Regierung ein? Wird er unter der Last der auf ihn gerichteten Erwartungen zerbrechen?

Ich glaube, daß die große Mehrheit der schwarzen Wähler nicht so sehr für den ANC als für Mandela stimmte. Es handelt sich wirklich um einen Märtyrer, um einen Erlöser, um eine Führungsgestalt, fast im freudianischen Sinne eine Vatergestalt, die für die Befreiung der südafrikanischen Menschen als stellvertretendes Symbol fungiert. Ein bißchen wie der Ajatollah im Iran. Das kann sich ganz schnell ändern. Schon fängt die Jugend an, Mandela zu kritisieren. Seinen Lebensstil, daß er einen Mercedes fährt, daß er sie immer wieder dazu aufrief, sich entwaffnen zu lassen.

Wie ist das Selbstverständnis der Südafrikaner? Denken sie, sie seien die letzte Kolonialbastion, die fiel? Oder glauben sie eher, sie könnten ein neues Modell für den Süden darstellen, vielleicht sogar ein Modell für die Zusammenarbeit von Erster und Dritter Welt?

Die Hoffnungen liegen mehr auf der Ebene einer multikulturellen Gesellschaft, einer nichtrassistischen Demokratie, daß wir etwas in Südafrika erreichen können, was noch nie woanders gelang. Führende Köpfe sehen diese Modellchancen, sehen die Vielfalt in der Einheit. Ich persönlich glaube auch daran. Es ist aber ein langwieriger Prozeß. Ich erinnere immer an das, was Mao Tse- tung einmal sagte, als man ihn fragte, ob die große Französische Revolution erfolgreich ausgegangen sei. Da soll er gesagt haben, es sei noch zu früh, dies festzustellen.

Sie haben sich viel mit der Frage nationaler Identität, mit Identitätsfindung befaßt. Was heißt dies für ein Land wie Südafrika?

Wir müssen nicht nur Symbole wie die neue Flagge finden, sondern auch Sitten, Traditionen, auf die wir bauen können. Dies hat viel mit der Sprache zu tun. In der neuen Verfassung steht, alle elf Sprachen seien gleichberechtigt. Meiner Meinung nach sind das nur Lippenbekenntnisse. Englisch ist der Schlüssel zur Macht in Südafrika. Die Mittelklasse spricht diese Sprache. Nach ihr könnte alles so bleiben.

Sie hätten gerne eine Art Schweizer Modell, zwei, drei Sprachen, die von allen verstanden werden, die das Land vereinen ...

Drei Sprachen könnten in den nächsten Generationen ein Kennzeichen Südafrikas sein. In einer bestimmten Kombination aus Muttersprache, Englisch als Lingua franca und einer Regionalsprache könnten sich alle Südafrikaner überall verständigen. Schon in den Schulen sollte es jetzt eine vielsprachige Erziehung geben. Wichtige Lieder und Gedichte, Reime sollen in den Vorschulen von den Kindern erlernt werden, ob europäischer, asiatischer oder afrikanischer Herkunft, damit die Kinder dieses Universum von Metaphern erfahren können.

Wie sind solche Projekte bei der tiefen sozialen Spaltung überhaupt möglich?

Wir müssen die Schulen aus den Ghettos herausholen. Genauso wie es Industrieparks gibt in einer Stadt, würde man solche Orte im Erziehungsbereich bauen. Wir nennen das „Sphären der Erziehung“. Da müssen dann alle hin, mit dem Zug, mit dem Bus. Das könnte ein Innovationsschub für die Stadtplanung werden. Auch unter ökonomischen Gesichtspunkten ist die Konzentration spannend: viele Kinder können sich kostspielige Bildungseinrichtungen teilen, etwa Labors, Bibliotheken, Sporteinrichtungen.

Eine Palästinenserin verglich jüngst den palästinensischen mit dem südafrikanischen Widerstand. Ihre These: Die Palästinenser hätten nicht geschafft, wirklich zu siegen. Aber sie würden es schaffen, den Staat aufzubauen, es gäbe genug eigene Fachkräfte weltweit. Südafrika habe hingegen gesiegt, aber die Schwarzen würden es nicht packen, den Staat alleine aufzubauen.

Die Schwarzen sind allemal auf die Weißen angewiesen, weil diese die Kenntnisse, die für die Verwaltung eines modernen Industriestaates notwendig sind, monopolisiert haben. Aber: Wir haben nicht gesiegt, sondern gerieten in eine Schachmatt-Situation. Wir vollbrachten nur, was in anderen Ländern mit viel weniger Schmerzen geschah: das allgemeine freie Wahlrecht zu erringen.

Sind Sie nicht doch zu pessimistisch? In Ihrem Land ist doch viel mehr Optimismus über die historische Zäsur und auch über die Zukunft zu finden.

Die Leute haben selbst bestimmt, daß sie die Geschichte des Landes neu schreiben wollen, ja, das ist ein historischer Moment. Wir müssen aber auch realistisch bleiben, historische Vergleiche anstellen, mit kühlem Verstand an die Fragen herangehen. Vielleicht schaffen wir es als erstes Land auf dem afrikanischen Kontinent, der Falle des Währungsfonds zu entkommen. Ja, vielleicht wiederholt sich die Geschichte diesmal nicht. Interview: Andrea Seibel

und Thomas Hartmann